Wahlrecht: Verzögerung auf dem Amtsweg

In seinem Urteil vom 3. Juli 2008 erklärte das Verfassungsgericht das negative Stimmgewicht für verfassungswidrig und gab dem Bundestag auf, spätestens bis zum 30. Juni 2011 eine verfassungsgemäße Regelung zu treffen. Wie bekannt handelte der Bundestag erst Monate nach Ablauf der ihm vom Gericht großzügig gesetzten Frist. Doch wer glaubt, dass nun alle Schritte zum Abschluss des Verfahrens mit besonderer Eile erledigt würden, der täuscht sich – ein Interview mit Matthias Cantow von Wahlrecht.de.

Sie verfolgen den Stand des Gesetzgebungsverfahrens. Wie lief das bisher weiter?
Nachdem dieses Gesetz vom Bundestag am 29. September verabschiedet wurde, ging es noch in den Bundesrat; dann zur Bundesregierung und anschließend zum Bundespräsidenten.
Die Zuleitung zum Bundesrat stellt sicher, dass die Länder ausreichend beteiligt werden. Hier ging es sehr schnell: Weil die Unionsfraktion des Bundestages um Eile gebeten hatte, verzichtete der Bundesrat auf eine vorherige Beratung im Ausschuss und das Plenum ließ das Gesetz am 14. Oktober passieren.

Dann ist Ihnen aufgefallen, dass es eine Verzögerung gab?
Ja, danach kam das Gesetz zur Bundesregierung. Die Kanzlerin bzw. der zuständige Minister müssen das Gesetz lediglich gegenzeichnen – dort lag das Gesetz drei Wochen. Das ist mehr als eine ärgerliche Verzögerung. Denn das nach langer Zeit des Nichtstuns in aller Eile durchgepeitschte Gesetz ist verfassungsrechtlich bedenklich. Es beseitigt weder das negative Stimmgewicht noch die Verzerrungen durch Überhangmandate. Deswegen wird – neben den Oppositionsparteien – auch Mehr Demokratie zusammen mit Wahlrecht.de dagegen klagen. Doch dafür wird die Zeit nun knapp.

Welche Auswirkungen haben denn die paar Wochen Verzögerung?
Die „paar Wochen“ können sich als gravierend herausstellen, denn schon im kommenden März beginnen die Parteien, die Vertreter zur Aufstellung der Wahlkreisbewerber für die kommende Bundestagswahl zu wählen. Ab Ende Juni können dann die Wahlkreisbewerber gewählt werden. Dann müsste idealerweise bereits ein verfassungsgemäßes Wahlrecht gelten.
Sollte das Bundesverfassungsgericht nun einer Klage stattgeben, wird es kompliziert. Denn dann müsste das Gericht aus Zeitgründen eventuell die Eckpunkte des neuen Gesetzes gleich mit ins Urteil schreiben. Diese Möglichkeit hat es, aber das wäre nicht wünschenswert. Das Wahlrecht hat für unsere Demokratie eine zentrale Bedeutung. Angemessen ist dem ein im Konsens der Fraktionen stattfindendes, öffentliches Gesetzgebungsverfahren, in das frühzeitig auch Fachleute eingebunden werden. So wie wir es uns auch schon bei der nun abgeschlossenen Gesetzgebung gewünscht hätten …

Warum „gewünscht“, wie lief das Verfahren denn ab?
Neben dem an sich schon bemerkenswerten Fristversäumnis des Bundestags sah es im Gesetzgebungsverfahren so aus, als wenn die Koalitionsfraktionen keinerlei Interesse an einer öffentlichen und fachlichen Diskussion ihrer Änderungsvorstellungen im Bundestag hatten. So wurde ihr Gesetzentwurf erst zwei Tage vor der 1. Lesung in den Bundestag eingebracht. Eine bedeutende Berechnung des Bundesinnenministeriums zu den Auswirkungen auf das negative Stimmgewicht wurde den zu einer Anhörung geladenen Sachverständigen erst unmittelbar vor dem Termin übergeben. Und so ging weiter: Ein wichtiger und nach der Anhörung vollständig neu formulierter Absatz wurden den Mitgliedern des Innenausschusses erst am Vorabend und eine weitere Berechnung des Innenministeriums dazu erst am Tag der abschließenden Ausschussberatung zur Verfügung gestellt. Das alles trug sicherlich dazu bei, dass das Gesetz nun so mit vielen rechtlichen Mängeln verabschiedet wurde.

Jede Bürgerin, jeder Bürger kann jetzt ein deutliches Zeichen setzen und die Verfassungsbeschwerde von Wahlrecht.de und Mehr Demokratie unterstützen.

Vielen Dank

<typohead type=4>Interview: Ronald Pabst, 15.11.2011</typohead>

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