Sperrklausel bei EU-Wahlen verfassungswidrig

Heute (26.2.) verkündete das Bundesverfassungsgericht sein Urteil zu unserer von über 1.000 Menschen unterstützten Bürgerklage gegen eine Drei-Prozent-Hürde bei EU-Wahlen. Aus Sicht der Richter ist diese verfassungswidrig.

Von Charlie Rutz

 

UPDATE vom 26. Februar 2014

Das Bundesverfassungsgericht verkündete heute sein Urteil über unsere und andere Klagen gegen die Einführung einer Drei-Prozent-Hürde bei Europawahlen. Es kommt zu dem Schluss, dass die Drei-Prozent-Sperrklausel im Europawahlrecht unter den gegenwärtigen rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen verfassungswidrig ist, da der mit der Sperrklausel verbundene schwerwiegende Eingriff in die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit nicht zu rechtfertigen sei. Eine abweichende verfassungsrechtliche Beurteilung könne sich ergeben, wenn sich die Verhältnisse wesentlich ändern.

(Bundesverfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle verkündet das Urteil)

Künftige Entwicklungen könne der Gesetzgeber dann maßgeblich berücksichtigen, wenn sie aufgrund hinreichend belastbarer tatsächlicher Anhaltspunkte schon gegenwärtig verlässlich zu prognostizieren seien. Die Entscheidung ist mit 5:3 Stimmen ergangen. Der Richter Müller hat dabei ein Sondervotum abgegeben. „Wir freuen uns, dass das Gericht unsere Auffassung bestätigt hat und damit dem Versuch der etablierten Parteien, Wahlrechtsänderungen zu ihren Gunsten zu betreiben, einen klaren Riegel vorgeschoben hat“, so Michael Efler, Bundesvorstandssprecher von Mehr Demokratie. „Die Stimmen von Bürgerinnen und Bürgern für kleinere Parteien gehen nun also kaum noch verloren.“

Weitere Informationen in unserer Pressemitteilung...


Der Sender Baden TV führte mit unserem Bundesvorstandssprecher Michael Efler nach der Verkündung des Urteils in Karlsruhe ein Interview (Hier geht's zum Video...). Dabei bekräftigte er: "Uns geht‘s um die Rechte der Wählerinnen und Wähler. Wir wollen nicht, dass so viele Stimmen bei der Wahl nicht gezählt werden. Bei der letzten Europawahl sind fast drei Millionen Stimmen nicht gezählt worden, weil sie an Parteien abgegeben worden sind, die an der Sperrklausel gescheitert sind. Das ist für eine Demokratie schlecht, wenn so viele Menschen sich eben nicht politisch vertreten sehen. Das wird sich jetzt ändern!“

 

UPDATE vom 19. Februar 2014

Heute äußerte sich Michael Efler, Bundesvorstandssprecher von Mehr Demokratie, zu unserer Verfassungsbeschwerde gegen die Drei-Prozent-Hürde bei Europawahlen wie folgt: „Die verfassungsrechtlichen Argumente ändern sich auch nicht bei einer geringeren Hürde. Verlierer sind nicht nur die kleineren Parteien, sondern vor allen Dingen die Wählerinnen und Wähler, deren Stimmen für diese Parteien verloren gehen.“

Weitere Informationen in unserer Pressemitteilung.

 

UPDATE vom 7. Februar 2014

In einer Pressemitteilung vom 6. Februar 2014 teilte der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts auf der Grundlage der mündlichen Verhandlung vom 18. Dezember 2013 mit, am 26. Februar 2014 um 10 Uhr sein Urteil zur Verfassungsbeschwerde von Mehr Demokratie und weiteren Klägern wie ÖDP, Freie Wähler und Piraten gegen eine Drei-Prozent-Hürde bei Europawahlen verkünden zu wollen. Eine Akkreditierung (-> Anmeldeformular) kann vom 12. Februar (10 Uhr) bis 19. Februar (12 Uhr) vorgenommen werden. Die Urteilsverkündung findet im Sitzungssaal des Bundesverfassungsgerichts (Amtssitz „Waldstadt“, Rintheimer Querallee 11, 76131 Karlsruhe) statt.

 

UPDATE vom 22. Januar 2014

Das Bundesministerium des Innern (BMI) hat das Informationsfreiheitsportal FragDenStaat.de der gemeinnützigen Open Knowledge Foundation Deutschland e.V. wegen der Veröffentlichung einer Stellungnahme abgemahnt, nachdem es ein Gutachten des Ministeriums zur Zulässigkeit von Sperrklauseln bei Europawahlen veröffentlich hatte.

Bei dem Gutachten handelt es sich um eine „interne fachliche Bewertung“, die zu dem Ergebnis kommt, dass "tragende Gründe […] gegen die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer 2,5-Prozent-Sperrklausel [sprechen]." Mehr Demokratie kritisiert das Vorgehen des BMI scharf: „Dass nun das Urheberrecht herangezogen wird, um ‚Frag den Staat‘ einen Maulkorb zu verpassen und die Veröffentlichung des Dokuments zu verbieten, ist ein handfester Skandal“, stellt unser Bundesvorstandssprecher Michael Efler klar.

„Das mit Steuergeldern finanzierte Gutachten offenbart deutlich, dass das Vorhaben der etablierten Parteien, kleinere Parteien am Einzug in das Europaparlament zu hindern, ganz klar dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts widerspricht. Das ist politisch hoch brisant und soll offenbar unter den Tisch gekehrt werden“, so Efler weiter.

Weitere Infos und Dokumente zum Thema gibt es bei "Frag den Staat":
https://fragdenstaat.de/presse/2014-01-21-bmi-mahnt-fragdenstaat-ab 

 

UPDATE vom 19. Dezember 2013

Bericht von der mündlichen Verhandlung des Bundesverfassungsgerichtes zur Drei-Prozent-Hürde am 18. Dezember 2013 in Karlsruhe

by Michael Efler

Das Bundesverfassungsgericht hatte in der mündlichen Verhandlung über zahlreiche Klagen von politischen Parteien sowie die von Mehr Demokratie initiierte Verfassungsbeschwerde, der sich 1.099 Bürger/innen angeschlossen hatten, zu beraten.

Im Mittelpunkt der Verhandlung standen zwei Fragen: Gibt es in Bezug auf das Europäische Parlament eine politische Dynamik, so dass von einer Änderung der Sachlage gegenüber dem letzten Urteil aus dem Jahr 2011, mit dem die Fünf-Prozent-Hürde für verfassungswidrig erklärt wurde, auszugehen ist? Und wäre aufgrund eines Wegfalls der Sperrklausel eine Funktionsstörung des Europäischen Parlamentes zu erwarten?

Eine neue politische Dynamik wurde vor allem von den zahlreichen anwesenden Politiker/innen des Europäischen Parlamentes, darunter Parlamentspräsident Martin Schulz, energisch vorgetragen. Hier wurde vor allem darauf hingewiesen, dass das Europäische Parlament nach dem Vertrag von Lissabon eine stärkere Rolle bei der Wahl des Kommissionspräsidenten habe und dass die europäischen Parteifamilien mit Spitzenkandidat/innen auf der Basis eines politischen Programms in den Wahlkampf ziehen würden. Dagegen wurde eingewandt, dass erstens die Änderungen durch den Vertrag von Lissabon zum Zeitpunkt des Urteils aus dem Jahr 2011 bereits bekannt waren und zweitens nach wie vor die Staats- und Regierungschefs eine zentrale Rolle bei der Auswahl des Kommissionspräsidenten für sich reklamieren würden, was auch durch ein aktuelles Interview von Bundeskanzlerin Merkel verdeutlicht wird.

Was die Funktionsstörung angeht, waren die Argumente des Bundestages am schwächsten. Hier blieb es wieder bei Hypothesen, Spekulationen und Befürchtungen. Geladene Sachverständige konnten anhand empirischer Daten über das Abstimmungsverhalten auch keine konkrete Funktionsstörung durch den Wegfall der Sperrklausel in Deutschland belegen. Manche Argumente, z.B. von Martin Schulz, gingen schon deshalb ins Leere, weil sie auf den möglichen Erfolg von rechtspopulistischen Parteien wie dem "Front National" in Frankreich oder der Freiheitspartei von Geert Wilders in Belgien abzielen, die aber überhaupt keine Schwierigkeiten mit irgendeiner Sperrklausel haben werden. 

Aus den Fragen der Richter/innen war deutlich herauszuspüren, dass es unterschiedliche Auffassungen zur Verfassungswidrigkeit der Drei-Prozent-Hürde gibt. Daher ist erneut mit einem knappen Urteil zu rechnen.

Hintergrund-News

Am 5. Juli 2013 ließ der Bundesrat ein bereits am 13. Juni 2013 mit den Stimmen von Union, SPD, FDP und Grünen im Bundestag beschlossenes Gesetz passieren, das die Einführung einer Drei-Prozent-Hürde zu den Europawahlen vorsieht. Nur die Fraktion der Linkspartei stimmte gegen das Gesetz. Am 7. Oktober 2013 unterzeichnete schließlich Bundespräsident Joachim Gauck das geänderte Europawahlgesetz, das am 10. Oktober 2013 in Kraft trat.

Da die Einführung einer Drei-Prozent-Hürde bei Wahlen zum Europaparlament aus Sicht von Mehr Demokratie gegen den Grundsatz der Gleichheit der Stimme und die Chancengleichheit der Parteien verstößt, legten wir hiergegen am 10. Oktober 2013 gemeinsam mit 1.099 Menschen eine Verfassungsbeschwerde ein. Bei unserem Gang zum Bundesverfassungsgericht unterstützt uns der Staatsrechtler Matthias Rossi, Professor an der Universität Augsburg, als Prozessbevollmächtigter. Er hat uns bereits erfolgreich bei unserer Verfassungsbeschwerde für ein faires Wahlrecht vertreten.


„Es ist offensichtlich, dass die großen Parteien mit dieser Gesetzesänderung ihre Pfründe sichern wollen, denn proportional erhalten sie mehr Sitze im Parlament, wenn kleine Parteien scheitern. Verlierer sind dabei vor allen Dingen die Wählerinnen und Wähler, deren Stimmen verloren gehen“, kritisiert unser Bundesvorstandssprecher Michael Efler.

Bei der Europawahl 2009 betraf dies in Deutschland immerhin 2,8 Millionen bzw. 10,8 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen. Unsere Bürgerklage soll den Wählenden die Möglichkeit geben, sich die Gültigkeit ihrer Stimme zu sichern.

Bereits 2011 hatte das Bundesverfassungsgericht die damals geltende Fünf-Prozent-Hürde als unzulässig verworfen, da sie laut Gericht gegen die Chancengleichheit der Parteien verstoßen habe. Ein Argument der Befürworter lautet, dass die Handlungsfähigkeit des Europäischen Parlaments gewahrt bleiben und deswegen eine Zersplitterung durch Vertreter/innen kleinerer Parteien verhindert werden müsse. „Allerdings sind im Parlament bereits 162 Parteien aus ganz Europa vertreten – einige wenige zusätzliche Parteien aus Deutschland würden also nicht stark ins Gewicht fallen“, so Efler. Zudem wird die Einführung der neuen Sperrklausel argumentativ mit einer rechtlich unverbindlichen Entschließung des Europäischen Parlaments vom 22. November 2012 bekräftigt, Mindestschwellen in den nationalen Gesetzen festzulegen. Begründet wurde diese Entschließung mit „neuen Modalitäten für die Wahl der Europäischen Kommission und des sich demzufolge ändernden Verhältnisses zwischen Parlament und Kommission ab den Wahlen 2014.“

Aus Sicht von Mehr Demokratie haben diese Veränderungen jedoch nur marginalen Einfluss auf das Verhältnis zwischen Parlament und Kommission, zumal die betreffenden Änderungen im Vertrag von Lissabon bereits 2009 vorgenommen worden waren. Sie waren also bereits in Kraft, als das Bundesverfassungsgericht im November 2011 sein Urteil fällte.

An den rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen im Europäischen Parlament hat sich seitdem somit nichts Wesentliches geändert. Außerdem sind die Argumente für eine Sperrklausel nicht ohne weiteres anwendbar auf das Europäische Parlament, da es eine andere Funktion und Arbeitsweise hat als beispielsweise nationale Parlamente. Viele EU-Mitgliedstaaten verzichten auf Sperrklauseln bei der Europawahl, darunter mit Spanien und Großbritannien auch Staaten mit großen Sitzkontingenten. „Es ist skandalös, dass der Bundestag in einem Schnellverfahren und trotz unveränderter verfassungsrechtlicher Rahmenbedingungen erneut eine Sperrklausel für die Europawahlen eingeführt hat. Dies zeigt neben dem Trauerspiel um das Bundeswahlgesetz erneut, dass die etablierten Parteien Wahlrechtsänderungen zu ihren Gunsten betreiben“, meint Efler abschließend.

Übrigens: Wir kritisieren auch die derzeitige gesetzliche Regelung zur Fünf-Prozent-Hürde bei Wahlen zum Deutschen Bundestag. Bei der Bundestagswahl am 22. September sind über 6,8 Millionen gültige Stimmen nicht gewertet worden, da die Parteien, auf die diese Stimmen entfielen, weniger als fünf Prozent erhielten. Das sind immerhin 15,7 Prozent der abgegebenen Stimmen! Aus unserer Sicht muss die Fünf-Prozent-Hürde gesenkt oder eine Ersatzstimme eingeführt werden. Unterstützen Sie deshalb jetzt unseren Bundestagswahlrecht-Aufruf: https://www.mehr-demokratie.de/wahlrecht-aufruf.html

Weitere Hintergrundinformationen


Unsere Partnerorganisation Wahlrecht.de hat die Anhörung und die Stellungnahmen der Sachverständigen zur Einführung einer Drei-Prozent-Klausel dokumentiert. Wilko Zicht von Wahlrecht.de bringt in seiner Stellungnahme die Kritik an der Sperrklausel auf den Punkt: „Hätte es noch eines Beweises für die vom Bundesverfassungsgericht behauptete Gefahr bedurft, „dass die jeweilige Parlamentsmehrheit sich statt von gemeinwohlbezogenen Erwägungen vom Ziel des eigenen Machterhalts leiten lässt“ (BVerfG, 2 BvC 4/10 vom 9.11.2011, Absatz-Nr. 91), so wäre er durch den vorliegenden Gesetzentwurf erbracht.“

Liste der geladenen Sachverständigen und deren Stellungnahmen 


Gesetzentwurf/Änderungsantrag 

  • Gesetzentwurf der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90 / Die Grünen vom 11.12.2012 – Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Europawahlgesetzes
    Bundestag-Drucksache 17/13705 (PDF)
     
  • Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Innenausschuss – Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Europawahlgesetzes
    Ausschussdrucksache 17(4)761 (PDF)
nach oben