Volksabstimmung, Wahlrecht und mehr…

Es ist ein mutiger Reformentwurf, den ein Wirtschaftswissenschaftler vorgelegt hat. Prof. Jörn Kruse will die Macht der Parteien einschränken; dazu soll auch das Wahlrecht geändert werden. Jeder kann die Arbeit des Lehrstuhls unterstützen – durch die Teilnahme an einer Umfrage.

Mehr Demokratie: Aufgrund eines Urteils des Verfassungsgerichts muss das Bundestagswahlrecht verändert werden. Herr Professor Kruse, in Ihrem Papier haben Sie auch Vorschläge dazu gemacht. Was sind Ihre Vorstellungen?

Prof. Jörn Kruse: Für mich sind drei Dinge zentral: a) die Abschaffung der Erststimme, b) der Wegfall der 5%-Hürde und c) die Möglichkeit für die Wählerinnen und Wähler, die Parteilisten zu ändern. Allerdings möchte ich nach wie vor, dass es einen lokalen Bezug zu den Kandidaten gibt. Deswegen soll es Mehrpersonenwahlkreise geben, aus diesen werden mehrere Abgeordnete gewählt. Sie sollen keinesfalls so groß sein, wie die jetzigen Bundesländer; aber eben größer als die jetzigen Wahlkreise.

Außerdem ist es wichtig, dass die Bürger relevante und möglichst neutrale Informationen über die Kandidaten bekommen. Und damit meine ich mehr als auf den Wahlplakaten steht, deren Nachrichtenwert ja kaum über dem von Zahnpastawerbung liegt. Dafür sollen von unabhängiger Seite Informationen bereitgestellt werden – etwa der Lebenslauf und die politische Einstellung zu unterschiedlichen Fragen.

Was war Ihre Motivation, sich mit solchen Fragen zu beschäftigen?

Ärger. Ich habe mich über unser politisches System geärgert und angefangen, nach Lösungen zu suchen. Denn ich glaube nicht, dass im Moment die Meinungen und Präferenzen der Menschen ausreichend berücksichtigt werden. Vor etwa 15 Jahren habe ich damit angefangen und Lösungen gesucht. In der Öffentlichkeit und in der Wissenschaft gibt es viel Kritik an dem bestehenden, parteiendominierten System und an seinen Prozessen und Ergebnissen. Aber nur wenige Leute beschäftigen sich mit der Frage, wie man die Dinge besser und bürgernäher regeln könnte. Deswegen habe ich angefangen, selbst einen umfassenden Entwurf mit zahlreichen Einzelvorschlägen zu entwickeln. Einer der wenigen konkreten Vorschläge, die viele Ökonomen vertreten, ist die Einführung des Volksentscheids auf Bundesebene. Das ist sicher richtig, aber allein nicht ausreichend. Meine Vorschläge gehen weit darüber hinaus und ändern sehr viel an unserem politischen System.

Sie wollen die „Partizipation per Stimmzettel“ ausweiten. Wer soll dann an Einfluss verlieren?

Die Parteien. Denn sie haben derzeit zu viel Macht. Der einzelne Abgeordnete ist gezwungen, sich konform zu Verhalten und entsprechend der Parteilinie abzustimmen. Denn seine Karriere hängt maßgeblich von den Mächtigen in der Partei ab. Sie entscheiden über den Platz auf der Wahlliste und viele andere, bezahlte Posten.

Ich möchte, dass weitere wichtige Entscheidungsgremien von den Bürgern direkt gewählt werden: Neben dem Bundestag sollen auch die Regierung, mehrere parlamentarische Fachräte (je einer zu einzelnen Politikgebieten oder wichtigen Kontroversen der Gesellschaft ) und ein Senat direkt vom Volk gewählt werden.

Dieser Senat soll unabhängig von Parteien und Verbänden sein. Deswegen dürfen Parteivertreter (und Verbandsfunktionäre) nicht zum Senat kandidieren. Dieses Gremium bildet die Zweite Kammer bei der Gesetzgebung. Er löst in dieser Funktion den heutigen Bunderat ab, der ja auch aus Parteivertretern besteht. Der Senat bestimmt zweitens die Spitzenpositionen aller Behörden und staatlichen Institutionen, damit diese nach Fachkompetenz und nicht nach Parteibuch besetzt werden. Und drittens soll der Senat durch Beauftragung von Expertenstudien, die in allgemeinverständlicher Form veröffentlicht werden, sicherstellen, dass die Bürgerinnen und Bürger zu wichtigen Themen der Gesellschaft gut informiert sind und damit nicht so leicht von Interessengruppen in deren Sinne beeinflusst werden können.

Mit ihrem Konzept wollen Sie erreichen, dass vernünftige Entscheidungen gefällt werden, die den Präferenzen der Bürger entsprechen. Das setzt aber voraus, unter verschiedenen Möglichkeiten die einzig Richtige zu finden. Ist das nicht zu hoch gegriffen?

Den Konzepten von „Bürgerpräferenzen“ und „Vernunft“ kann man sich in der politischen Praxis nur durch einen Diskussionsprozess annähern. Dies ist anders als in der Wirtschaftswissenschaft, wo oft davon ausgegangen wird, dass die Präferenzen vorgegeben sind. Erst durch eine breite Debatte mit Informationen aus verschiedenen Quellen bilden sich die Menschen eine Meinung zu vielen Themen.

Also ist es wichtig, möglichst von Partialinteressen unabhängige Informationen anzubieten, die viele Menschen verstehen können. Und eine breite Debatte über wichtige Fragen zu führen. Das dies grundsätzlich funktionieren kann, zeigt die Schweiz. Es ist bekannt, dass die Bürgerinnen und Bürger dort viel besser über politische Fragen informiert sind. Denn sie haben durch die Volksabstimmung einen Anreiz, sich mit solchen Fragen zu befassen.

Sie halten Volksabstimmungen nur dann für geeignet, wenn die Fragestellung nicht zu komplex ist und genügend Menschen an der Abstimmung teilnehmen. Muss dies durch Abstimmungsquoren sichergestellt werden? Und müssten die dann nicht auch bei Wahlen gelten?

Ich halte es für problematisch, wenn bei Wahlen oder Abstimmungen die Beteiligung gering ist. Das Ergebnis ist dann nicht repräsentativ, sondern bevorzugt aktive Minderheiten gegenüber der Mehrheit der Bevölkerung. Dies ist eine Frage der demokratischen Legitimation; nur eine breite Basis von Teilnehmern kann diese sicherstellen. Dies kann man aber nur durch gute Informationen erreichen – und dadurch, dass die Stimme der Bürger wirklich etwas zählt und die politischen Entscheidungen bestimmt und nicht von den Politikern untergebuttert werden kann.

Eine wichtige Frage in der Demokratie ist es, die neudeutsch als „bildungsferne Schichten“ bezeichneten Menschen in den Prozess einzubinden. Wie wollen Sie erreichen, dass diese Menschen an der Debatte teilnehmen und mitentscheiden?

In einer Demokratie sind alle Bürger gleichberechtigt, unabhängig vom Bildungsstand. Das ist eine demokratische Grundprämisse und wirft gleichzeitig auch Probleme auf. Theoretisch können wir uns zwei Extreme vorstellen, die wir aber beide sicher nicht wollen. Man könnte eine Wahlpflicht einführen: Wer nicht an einer Abstimmung teilnimmt, müsste eine Strafe zahlen. Oder aber man macht einen Test, mit dem man einen Menschen testet, ob er genügend Kompetenz hat, um eine politische Entscheidung zu treffen. Beides sind aber ungeeignete und undemokratische Zwangsmaßnahmen. Auch dies ist letztlich eine Informationsaufgabe. Aber wir müssen bei allen Entscheidungen mit unterschiedlichen und unbefriedigenden Informationsständen leben - in der Demokratie und auch sonst.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview wurde von Ronald Pabst geführt.

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