Irgendwie die Karlsruher Klippen umschiffen…

Gestern wurden im Innenausschuss des Bundestages Experten angehört: Thema war die Reform des Wahlrechts. Das Verfassungsgericht hatte geurteilt, dass das negative Stimmgewicht abgeschafft werden soll. Mehr Demokratie war durch Tim Weber vertreten, der seine Eindrücke schildert.

Mehr Demokratie: In Berlin wird heftig gestritten. Es geht um die Umsetzung des Urteils des Verfassungsgerichts. Wie verlief die Diskussion darüber?

Tim Weber: Das war spannend. Denn nach der aktuellen Debatte bleibt das negative Stimmgewicht bestehen, d. h. Wähler helfen ihrer Partei, indem sie nicht zur Wahl gehen. Es wurde vor allem darüber debattiert, bis zu welchem Maß das hinnehmbar ist. Mir kam es fast so vor, als wurde gefragt: „Wie viel negatives Stimmgewicht hätten Sie denn gerne?“ Dazu wird mit Beispielrechnungen argumentiert. Diese Debatte ist rein auf der Fachebene, und die Details sind schwer nachvollziehbar.

War denn eine Offenheit da, um Alternativen zu prüfen? Wurde zum Beispiel über den Vorschlag der Mehrmandatswahlkreise gesprochen, was Mehr Demokratie fordert.

Ich habe diese Idee vorgestellt und erläutert. Der Vorschlag hat auf diesem Weg Eingang in die Protokolle des Bundestags gefunden. Aber eine offene Debatte darüber fand nicht statt. Er ging sozusagen an den Bedürfnissen der Abgeordneten vorbei. Eine solche würde voraussetzen, dass im Ausschuss eine grundlegende Debatte über das Thema geführt wird. Das ist nicht der Fall. Das Wahlrecht mit Erst- und Zweitstimme wird nicht in Frage gestellt. Im Grunde geht es um die Frage der Überhangmandate. Die Union möchte daran festhalten, weil sie davon ausgehen kann, in Zukunft mehr davon zu profitieren. Die Opposition möchte die Überhangmandate vermeiden bzw. ausgleichen.

Wie siehst Du das?

Die Überhangmandate verzerren die Gleichheit der Stimmen. Darum wäre es besser, ein Wahlrecht zu schaffen, das sie künftig vermeidet. Außerdem würde ohne Überhangmandate auch nicht mehr das negative Stimmgewicht auftreten.

Wie wird es deiner Einschätzung bei dem Thema weitergehen?

Es gibt warnende Stimmen, die durch die jetzige Debatte das Wahlrecht in Gefahr sehen. Ihrer Meinung nach kann es vorkommen, dass ab nun nach jedem Regierungswechsel eine Reform im Sinne der jeweiligen Regierung kommt. Das lässt sich in anderen Staaten auch zeigen. Diese Gefahr sehe ich für Deutschland allerdings nicht.

Jedoch hat die Opposition bereits eine Klage in Karlsruhe angekündigt. Damit werden am Ende die Verfassungsrichter entscheiden. Das prägt auch die Debatte. Es geht nicht darum, ein verständliches Wahlrecht zu schaffen. Es geht einzig und allein um die Frage, was in Karlsruhe durchgehen könnte. Diese politische Debatte ist seit 2008 offen. Ich hätte mir mehr Mut gewünscht. Nun konzentriert sich alles darauf, ob die Klippen in Karlsruhe umschifft werden können oder nicht.

Wie kann man es denn besser machen?

Im angelsächsischen Raum z.B. Britisch Columbia oder Neuseeland gibt es Beispiele für Wahlrechtsreformen, die gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern gestaltet wurden. Es wurden Kommissionen mit Bürgern besetzt und öffentliche Anhörungen organisiert. Die letzte Entscheidung hatten die Bürger über ein Referendum. Beim Wahlrecht sind die Abgeordneten und Parteien in hohem Maße betroffen. Das trübt die klare Sicht.

<typohead type=4>Das Interview führte Ronald Pabst, 6. 9. 2011</typohead>

 

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