Auf den Spuren eines Demokratie-Experiments

Gruppenbild Irland|Foto: Michael von der Lohe

Was wir in Irland über Referenden gelernt haben und für unser eigenes Projekt mitnehmen. 

Bei „Demokratie-Experiment“ denken Sie jetzt nicht sofort an Irland? So ging es mir auch – bis die Ir*innen im letzten Jahr mit 66,4 Prozent für eine Lockerung des rigiden Abtreibungsverbotes gestimmt haben. Vorbereitet wurde das Ganze von einer gelosten Bürgerversammlung, beschlossen in einem Referendum. 

So etwas wollen wir in Deutschland auch machen. Die Idee, ein ähnliches Modellprojekt auch hier zu starten, wurde im letzten Jahr geboren. Jetzt wollten wir – eine Gruppe von Leuten aus Demokratie-Organisationen, Politik und Beteiligungsinstituten – mehr darüber wissen und sind im Januar 2019 nach Irland gereist. Getroffen haben wir den Premierminister, Abgeordnete, Jurist*innen, Wissenschaftler*innen, Vertreter*innen von NGOs und natürlich Bürger*innen. Und das haben wir in Irland gelernt: 

1. Am Anfang war die Krise... 

Die Finanzkrise hat Irland schwer getroffen. Im Jahr 2011 gab es eine brutale Rezession. Die Pubs im Land waren leer, Läden verwaist und Menschen wanderten aus. Nicht nur die schlechte Wirtschaftslage drückte den Menschen auf die Seele, auch gesellschaftliche Fragen waren seit Jahrzehnten ungelöst und so manche alte Tradition von der Wirklichkeit überholt. In der Verfassung stand, dass der Platz der Frau Heim und Herd sei. Blasphemie war verboten. Und das Land hatte eines der rigidesten Abtreibungsrechte der Welt. Selbst nach einer Vergewaltigung war es Frauen nicht erlaubt, die Schwangerschaft zu beenden. Viele betroffene Frauen gingen für einen Eingriff nach Großbritannien. 

2. .. aus der wurde eine Chance 

Manchmal braucht es die Krise, damit Menschen zu Experimenten bereit sind. Den Politiker*innen in Irland wurde klar, dass mehr Menschen in den Diskussionsprozess eingebunden sein müssen, um wirkliche Lösungen zu finden. Sie griffen auf eines der ältesten Demokratie-Prinzipien zurück, das bereits im alten Athen angewandt wurde: das Losverfahren. Die zündende Idee dabei: Die gelosten Versammlungen sollen ein Abbild der Gesellschaft sein – jede*r kann ein Mandat bekommen. Denn Parlamente sind zwar demokratisch gewählt, aber nicht (mehr) repräsentativ. In Deutschland sind es überwiegend Jurist*innen, Beamte und generell Akademiker*innen, die Kinder von ebensolchen sind. 

3. Das Herzstück: Bürgerversammlung 

In Irland kamen ein Jahr lang an zwölf Wochenenden 100 per Los bestimmte Menschen aus allen Winkeln des Landes zusammen. Großer Saal im Grand Hotel eines Küstenstädtchens, 20 Kilometer nördlich von Dublin: Die besten Expert*innen und Wissenschaftler*innen informieren über Pro und Contra. Jurist*innen stehen für Detailfragen zur Verfügung. Im Falle der Abtreibungsfrage kommen auch betroffene Frauen und Ärzt*innen zu Wort. Natürlich werden bei den strittigen moralischen Fragen auch die katholische Kirche sowie NGOs gehört. Alles wird online übertragen. So können alle nachvollziehen, ob die Informationen voreingenommen waren. Die Teilnehmenden sitzen jeweils zu sechst an runden Tischen. Die Beratungen selbst finden ohne Kameras statt, unterstützt von einer moderierenden und einer protokollierenden Person pro Tisch. Am Ende der Diskussion werden die zu entscheidenden Fragen gemeinsam im Plenum formuliert und geheim abgestimmt. 

4. Enge Anbindung an die Politik 

Das irische Parlament hat die Bürgerversammlungen ins Leben gerufen. Es hat die Themen bestimmt und die Vorschläge der Versammlungen entgegengenommen. Die erste Runde, die so- genannte Constitutional Convention von 2012 bis 2014 bestand aus 66 Bürger*innen sowie 33 Politiker*innen – In der zweiten Runde, der Citizens Assembly von 2016 bis 2018 saßen 99 geloste Bürger*innen. Das Vertrauen der Politik in den Prozess war mittlerweile offenbar groß genug. Die möglichst repräsentative Auswahl der teilnehmenden Personen war von einem Umfrageinstitut vorgenommen. Geachtet wurde auf Geschlecht, die Verteilung Stadt-Land und das Alter. 

5. Jede*r ist angesprochen 

Müssen die teilnehmenden Menschen ein bestimmtes Wissen haben, müssen sie sich im politischen System auskennen? Die übereinstimmende Antwort war: Nein. Sie lernen all dies, während sie teilnehmen. Das macht die Schönheit dieses Prozesses aus. Doch ohne professionelle und geschulte Moderation klappt es nicht.

6. Ohne Geld geht es nicht 

Wenn man vermeiden will, dass nur wieder die „üblichen Verdächtigen“ teilnehmen, muss man Geld in die Hand nehmen. Inklusion kostet Zeit. Aber nur so kommen auch neue Menschen und Ideen in die politische Arena. Und nur so kommen Ergebnisse zustande, die wirklich mehrheitsfähig sind. 

7. Breite Themenpalette 

Bei der ersten Runde, der Constitutional Convention, wurden zehn Themenkomplexe behandelt. Für die meisten davon war jeweils ein Wochenende vorgesehen, für umstrittenere wie die Homo-Ehe zwei Wochenenden. Die Bürger*innen erarbeiteten über 30 Empfehlungen und übergaben diese dem Parlament. 

Für die Ergebnisse der zweiten Runde der Citizens Assembly haben wir noch keine solche Auswertung, denn die endete erst im Jahr 2018. 

8. Keine Angst vor heißen Eisen 

Die mit Abstand heißesten Themen waren die Homo-Ehe und ein neues Abtreibungsrecht. Beide Empfehlungen der Versammlungen wurden zuerst vom Parlament übernommen und dann in Abstimmungen angenommen. 

Kaum jemand hielt diese liberalen Vorschläge für mehrheitsfähig. Es zeigte sich, dass die Bevölkerung mutiger war als die Politik. Ohne die Bürgerversammlungen wäre es gar nicht erst zu den Referenden gekommen, denn das Parlament hätte sich kaum einigen können. Zur gleichen Zeit übrigens führte im katholischen Frankreich die Regierung die Homo- Ehe ein. Hunderttausende zogen gegen diesen Beschluss „von oben“ auf die Straßen. 

Da alle wussten, dass beide Themen eine Verfassungsänderung zur Folge haben, wertete das den Diskussionsprozess stark auf. Deutlich mehr Menschen nahmen Anteil, beteiligten sich an der Diskussion und machten Eingaben. 

9. Die Verfassung ist „unser Buch“ 

In Irland muss jede Verfassungsänderung vors Volk. Will das Parlament die Verfassung ändern, beschließt es diese Änderung mit einfacher Mehrheit in beiden Kammern. Danach findet zwingend ein Referendum statt. Die Bürger*innen entscheiden ebenfalls mit einfacher Mehrheit, es gibt kein Abstimmungsquorum. Von 1941 bis heute gab es über vierzig solcher Verfassungsreferenden. 

In Irland werden praktisch alle bedeutenden Fragen – vom Wahlrecht bis zu EU-Verträgen – in der Verfassung geregelt und immer mittels Volksabstimmungen bestätigt (oder abgelehnt). Das Ergebnis ist, dass der ehemalige Premierminister Enda Kenny die Verfassung als „Buch der Bürger“ bezeichnet. Wir sind beeindruckt und berührt – wie wäre es, wenn wir vom Grundgesetz als „unserem Buch“ sprechen würden? 

10. Hundert Menschen sind genug 

Bei einer reinen Zufallsauswahl sind 100 Leute statistisch nicht repräsentativ, auch nicht in einem kleinen Land mit einer Bevölkerung von 4,5 Millionen 

Andererseits: Versammlungen mit 1.000 Menschen würden in dieser Form nicht mehr funktionieren – sie wären einfach überdimensioniert und nicht mehr organisierbar. Überschaubarkeit spielt eine große Rolle, damit Menschen sich überhaupt öffnen können. Schon bei 100 Teilnehmenden trauen sich anfangs nur wenige im Plenum vor allen zu sprechen. Mit mehr als 150 bis 200 Menschen ist ein so intensiver Austauschprozess nicht mehr sinnvoll machbar. Es braucht also einen Kompromiss zwischen Repräsentativität und praktischer Umsetzbarkeit. 

Constitutional Convention 

Homo-Ehe, Mai 2015 

Abstimmungsbeteiligung = 60.5% 

Ja= 62.1% Nein= 37.9% 

Citizens Assembly 

Abtreibungsrecht, Mai 2018 

Abstimmungsbeteiligung: = 64.1% 

Ja= 66.4% Nein = 33.6% 

11. Der Ton macht den Erfolg 

Über den zentralen Erfolgsfaktor waren sich alle einig: Der ruhige, faktenbasierte Austausch unter den Beteiligten. In einem offenen und sicheren Klima konnten sich neue Meinungen bilden. Niemand stand „blöd“ da, wenn er seine Meinung änderte. Tom Arnold, der Vorsitzende der ersten Convention erklärte uns die sechs Arbeitsprinzipien, die er mit allen Teilnehmenden zu Beginn der Versammlung vereinbart hatte und in deren Verlauf überwachte. 

Diese Grundprinzipien in Anwendung würden jede politische Talkshow, jede Veranstaltung, ja sogar die Auseinandersetzung im Parlament verändern. 

Wir haben also eine Menge in Irland gelernt. Gerade bereitet Mehr Demokratie einen solchen Bürgerrat in Deutschland vor. Wir sind unglaublich gespannt, ob und wie dies bei uns funktioniert. Wir halten Sie auf dem Laufenden. 

Teilen:
nach oben