10 Thesen zum Brexit – Der Brexit ist ein Aufruf zur Demokratiereform

Gedanken von Stefan Padberg, Moderator des AK Europa bei Mehr Demokratie

Mit dem Wahlsieg der Tories ist es nun endgültig klar: Der Brexit wird kommen. All das ist auch eine Folge schlecht ausgestalteter politischer Verfahren und ein Lehrstück dafür, wie Demokratie und direkte Demokratie nicht funktionieren. In 10 Thesen setzt sich Stefan Padberg mit den Rahmenbedingungen des Brexit und den Schlussfolgerungen mit Blick auf die Demokratie auseinander.

(1) Der Brexit wird kommen

Der deutliche Sieg der Konservativen ist ein klarer Auftrag, den Brexit jetzt umzusetzen. Boris Johnson hat nachverhandelt, das Austrittsabkommen liegt auf dem Tisch und ist bekannt. Jeder wusste worum es geht. Man muss das Ergebnis aus demokratischer Sicht akzeptieren.

(2) Alles oder Nichts

Von Fake News Angriffen ist bis jetzt nichts bekannt. Der Wahlkampf ist zwar sehr emotionalisiert gewesen. Das gehört in Großbritannien aber zur Tradition und die Wählenden können damit umgehen. Zum anderen ist das Thema natürlich sehr stark mit Wertehaltungen verknüpft und bot wenig Raum für entspannten Dialog, da es um eine "Alles oder Nichts"-Entscheidung ging. Bevor wir über Fake News-Vorwürfe usw. sprechen, sollten wir erstmal über das ganze Dialog feindliche, machtpolitische Taktierereien fördernde Setting bei Wahlen überhaupt sprechen.

(3) Mehrheitsentscheide können spalten

Das Referendumsergebnis ist nun quasi durch zwei Parlamentswahlen (2017 und 2019) bestätigt worden. Es kann somit nicht mehr als Beweis für die besondere Anfälligkeit der direkten Demokratie für populistische Politikansätze zitiert werden. Eine deutliche Mehrheit der Briten wollte damals und will offenbar auch heute die EU verlassen. Die Art der Mehrheitsfindung kann und muss man kritisieren, aber das kann keine Kritik allein an Referendumsprozessen und ihren angeblichen Ja-Nein-Charakter mehr sein. Wenn Mehrheiten gesucht werden auf der Basis "wir gegen die anderen", fördert das bei solch substanziellen Fragen die Spaltung in der Gesellschaft. Das gilt nicht nur bei Abstimmungen, sondern auch bei Wahlen. Und zwar unabhängig davon, wie die jeweilige Wahl oder Abstimmung ausgeht.

(4) Mit der EU-Reform Ernst machen

Was uns als Demokratinnen und Demokratien betroffen machen muss, ist, dass eine der Hauptparolen in dieser ganzen Brexit-Debatte "Take back control" war und ist. Das deutet auf ein Demokratieproblem hin. Es zielt auf die bürokratischen Strukturen der EU und verlangt von uns, dass wir noch stärker den beginnenden Reformprozess unterstützen müssen. Die von der neuen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen einberufene "Konferenz über die Zukunft der EU" wird hierzu gute Möglichkeiten bieten. Sollte dieser Reformimpuls zum wiederholten Male ergebnislos im Sande verlaufen, wird die EU an Unterstützung verlieren, und es stehen dann vermutlich weitere Exits bevor.

(5) Die Briten und die EU

Auf der anderen Seite: Die Briten wollten nie eine politische Union. Der Prozess zur "ever closer union", der mit Maastricht begann und mit Lissabon endete, war nie ihr Ding. Auch diejenigen, die heute als "remainer" aufgetreten sind, stehen einem politisch geeinten Europa eher skeptisch gegenüber. Insofern ist der Brexit konsequent und steht in der besonderen Tradition des Verhältnisses von Großbritannien zur EU.

(6) "Take back control" auch in Großbritannien selber!

Der Brexit-Prozess der letzten drei Jahre hat deutlich gezeigt, dass es schwere institutionelle, strukturelle und prozessuale Verwerfungen im britischen politischen System gibt. "Take back control" kann deshalb nur heißen, diese auch anzugehen, einen institutionellen Reformprozess zu beginnen und dafür zu sorgen, dass sich so ein politisches Drama nicht nochmal wiederholt. Dafür sind die Bedingungen nach Johnsons Sieg denkbar ungünstig. Das ist eine schwere Hypothek für die demokratische Entwicklung in Großbritannien. Von einer Citizens' Assembly über die Zukunft Großbritanniens und von einer Überwindung der Gräben in der Gesellschaft sind wir jetzt weiter weg denn je.

(7) Die Spaltungen in der Gesellschaft mindern, nicht verbreitern

Wir halten ein Referendum mit vorgeschalteter Citizens' Assembly nach wie vor für die elegantere Methode, um eine solche Frage zu lösen, als eine Parlamentswahl. Alle, die für den Brexit sind, mussten für Johnson und sein ganzes rückwärtsgewandtes politisches und soziales Programm stimmen, obwohl sie damit vielleicht gar nicht übereinstimmen. Johnson hat jetzt ein Mandat, dies alles umzusetzen. Die sozialen Spaltungen in der britischen Gesellschaft wird er nicht vermindern, sondern eher noch verstärken. Dies ist eine zweite schwere Hypothek für die britische Demokratie.

(8) Der englisch-schottische Graben vertieft sich

Wichtig zu notieren ist, dass die SNP, die für die Unabhängigkeit Schottlands im Falle eines Brexit eintritt, an Wählenden gewonnen hat. Sie kontrolliert jetzt fast 80 Prozent der schottischen Wahlkreise. Dies kann eigentlich nur so interpretiert werden, dass Schottland jetzt Kurs auf die Unabhängigkeit nehmen wird. Ein Referendum über die schottische Unabhängigkeit muss aber von London genehmigt werden, und das wird nicht geschehen. Neben der politisch-kulturellen Spaltung in Pro- und Anti-EU, neben der sozialen Spaltung zwischen Arm und Reich, die zugleich auch eine Spaltung zwischen Stadt und Land ist, kommt jetzt als drittes noch die Konfliktlinie zwischen England und Schottland hinzu. Dem Vereinigten Königreich stehen also weiter turbulente Zeiten bevor.

(9) Zeitbombe Schottland?

Glücklicherweise gibt es in Schottland einen Citizens' Assembly Prozess über die Zukunft Schottlands. Es ist zu hoffen, dass dieser Prozess so abläuft, dass er die Spaltungen in der Gesellschaft vermindern hilft, indem er ein gemeinsam anzustrebendes Bild von Schottland in der Zukunft schafft.

Auch in Schottland steht den Unabhängigkeitsbefürworterinnen und -befürwortern die entsprechende Gegnerschaft relativ unversöhnlich gegenüber. Die schottische Wirtschaft ist eng mit der englischen verflochten, enger, als es den Unabhägigkeitsbefürwortern lieb ist.

London sieht sich nicht als neutraler Vermittler zwischen den beiden Gruppen, sondern als Schutzmacht für diejenigen, die im Vereinigten Königreich verbleiben wollen. Sollte ein Unabhängigkeitsreferendum verweigert werden, ist nicht ausgeschlossen, dass schottische Nationalisten in ähnlicher Weise anfangen zu agieren wie die Katalanen in Spanien. Ein Referendum über die schottische Unabhängigkeit ist nur sinnvoll, wenn

  • vorher in der Öffentlichkeit ein breiter Diskurs über das Für und Wider einer Unabhängigkeit stattfindet und
  • wenn es im konstitutionellen Rahmen des Vereinigten Königreichs stattfindet.

Ersteres scheint möglich. Wie letzteres erreicht werden kann, ist nach Johnsons Sieg auf der politischen Ebene nicht erkennbar. Es ist aber nicht so ausgeschlossen wie in Spanien, wo die Verfassung solche Referenden verbietet.

(10) Demokratischer Reformbedarf auch bei uns

Wir sollten nicht die falsche Lehre daraus ziehen, dass „so etwas bei uns in Deutschland ja Gott sei Dank nicht möglich ist“. Denn auch wir haben eine institutionell und politik-kulturell verursachte Starre im politischen System. Wenn der Bundestag es in dieser Legislaturperiode nicht schafft, eine Reform in Richtung von mehr Bürgerbeteiligung auf den Weg zu bringen, werden sich weitere Menschen vom Berliner Politikbetrieb abwenden. Dann wird auch bei uns die Entwicklung hin zur Stärkung rechtskonservativer, nationalistischer und rechtsextremer Kräfte weitergehen und möglicherweise in eine turbulentere Phase übergehen. Umso wichtiger ist die Weiterentwicklung der Demokratie, wie sie soeben vom Bürgerrat Demokratie vorgeschlagen wurde und das Einsetzen der geplanten Expertenkommission zum Demokratieausbau.

Weitere Informationen:

(Edit. 14.12.: Zwischenüberschriften eingefügt, These 3 und 9 etwas ergänzt und umformuliert, Links hinzugefügt)

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