Abkürzung zur Direkten Demokratie

Über ein neues Parteienmodell, bei dem Abgeordnete die Abstimmungsergebnisse ihrer Mitglieder mit Pro, Contra und Enthaltung eins zu eins ins Parlament übertragen. Eine Rezension.

„Du wirst die Dinge niemals ändern, indem du das Bestehende bekämpfst. Um etwas zu verändern, baue ein neues Modell, welches das alte überflüssig macht.“ Buckminster Fuller

Stellen Sie sich vor, Sie stimmen als Mitglied Ihrer Partei direkt über eine CO2-Steuer ab. Dabei sind 70 Prozent dafür, 20 Prozent dagegen und zehn Prozent enthalten sich. Am nächsten Tag votieren Ihre zehn Abgeordneten im Parlament ebenfalls mit sieben Stimmen dafür, zwei Stimmen dagegen und einer Enthaltung zur CO2-Steuer. Das Modell macht Schule. Bald haben nur noch solche Parteien Zulauf, deren Mitglieder derart direkt ins Parlement „hineinvotieren“ und bei wenig Zeit auch flexibel an Parteimitglieder delegieren können – das alte Modell mit Fraktionszwang und Langzeit-Delegierten-Parteitagen wird überflüssig. Diese Vision entwirft Peter Monien in seinem Ende 2018 erschienenen Buch „Abkürzung zur direkten Demokratie“.

 Der Autor mit Erfahrungshintergrund in der Marktentwicklung technologischer Produkte stellt zu Anfang dar, warum wir einen neuen Typ von Partei – die „Proxy-Partei“ – brauchen: Meist legten heute basisferne Parteiführungen fest, wie abgestimmt werden soll. Abgeordnete folgten der Vorgabe oft aus Karrieregründen. Außerdem seien kleine Ausschuss-Gremien sehr mächtig, weil den Abgeordneten Zeit fehle, sich tiefergehend mit der Flut der Vorlagen zu befassen. Diese Gremien seien leicht und intransparent von Lobbyisten und Lobbyistinnen zu beeinflussen.

Peter Monien konstatiert mit Verweis auf den Verfassungsrechtler Herbert von Arnim „versteinernde“ Effekte durch die derzeitige Parteien-Finanzierung, welche die bestehenden Bundestagsparteien massiv bevorzuge: Nachdem 1967 die Parteienfinanzierung aus öffentlichen Geldern eingeführt wurde, zur Deckung der „notwendigen Kosten eines angemessenen Wahlkampfes“, habe sie von 1968 bis 2015 eine Erhöhung auf das 6,7-fache erfahren. Und zwar unter öffentlicher Kontrolle. Die Fraktionsgelder – nicht unter öffentlicher Kontrolle – seien im gleichen Zeitraum auf das 35-fache angehoben worden (s. Kapitel 6.1). Das hebe die Eintrittshürden für neue Parteien: „Neben den drei Gründungsparteien (CDU/ CSU, SPD, FDP) haben es in den 68 Jahren der Bundesrepublik Deutschland nur drei neue Parteien erreicht, in den Bundestag gewählt zu werden“.

Auf Basis einer gründlichen Auswertung der Piratenpartei schlägt Monien eine Proxy-Partei mit den Kernthemen Demokratie und Transparenz vor. Auf diesen Feldern sieht er bereits genug Handlungsbedarf: zum Beispiel die Einführung der direkten Demokratie auf Bundesebene nach dem Vorschlag von Mehr Demokratie e.V., unterstützt von gelosten Gremien, Demokratisierung der EU, Amtszeitbegrenzung, Lobbyregister, ein Wahlrecht, bei dem man auch seine zweite und dritte Wahl ausdrücken kann.

Wesentliche Motivation sind für ihn zudem die vielen aufgestauten Herausforderungen und ungenutzten Lösungsansätze. Er listet dabei unter anderem das Fair-Handelsmodell von Karl-Martin Hentschel auf (Zölle nur bei Nichterfüllung von Menschenrechts- und Umweltstandards), das Vollgeld, das bedingungslose Grundeinkommen im Zusammenhang mit Rationalisierung und Automatisierung, den derzeitigen Zwang zu einem Wirtschaftswachstum, das die Ressourcen der Erde übersteigt, sowie die Herausforderungen des abnehmenden Qualitätsjournalismus und der digitalen Überwachung, für die ebenfalls Lösungsideen bestehen.

Als wesentlichen Aspekt der vorgeschlagenen Proxy-Partei kann man die „Liquid Democracy“ sehen: Jeder Vorschlag müsse zwecks Priorisierung gewisse Hürden nehmen, um zur Abstimmung zu gelangen. Das Neue dabei sei die Arbeitsteilung durch Delegieren: Vertraut man beispielsweise jemandem in puncto Familienpolitik, könnte man für diesen Bereich die eigene Stimme delegieren und sich auf die eigenen Kern-Themen konzentrieren. Die Delegation könnte man jederzeit ändern oder selbst abstimmen – man bleibt also ‘liquide’.

Einen ersten Anlauf zu Liquid Democracy habe die Piraten-partei unternommen – ohne jedoch die unverbindliche Testphase zu verlassen. Der Grund sei eine erbitterte Datenschutz-Debatte: „Wir wollen keine Gesinnungsdatenbank durch namentliche Abstimmung“, sagten sinngemäß die einen. Die anderen erwiderten: „Namentliche Abstimmung ist unerlässlich, um elektronische Abstimmungen überprüfbar zu halten und außerdem um geeignete Delegations-Empfänger*innen zu finden“. In dieser Frage gibt Monien keine klare Empfehlung.

Für das Vorgehen einer neuen Partei macht er jedoch interessante Vorschläge: Das Vertrauen der Wähler und Wählerinnen solle die Proxy-Partei durch handfeste Sicherheiten gewinnen: Erstens in Form von garantierten direkten Mitbestimmungsrechten der Mitglieder per Liquid Democracy. Zweitens durch sichere Transparenz mittels eines „Blockchain-Protokolls“ über alle wichtigen demokratierelevanten Prozesse der Partei – wie etwa gleiches Stimmgewicht, Einhaltung der Prozessschritte und Fristen, verwendete Entscheidungsgrundlagen inklusive Faktenchecks. Ein solches Blockchain-Protokoll sei robust gegen Manipulation, weil alle Mitglieder immer eine aktuelle Kopie davon hätten. Wer es beeinflussen wolle, müsste mehr als die Hälfte der Mitglieder von seiner Version überzeugen. Damit nicht nur die Risiken des Internets sich verwirklichen, sondern auch dessen Chancen für die Demokratie, ist ein beherzter, neu-er Versuch, eine Proxy-Partei zu gründen, durchaus zu befürworten. Durch die Erfahrungen der Piraten läge der Start bereits ein Level höher. Einzig einen Ethik-Kodex und einen Grundwerte-Konsens, wie etwa „Demokratie in Bewegung“ sie hat, sollte die Partei nach Ansicht des Rezensenten zusätzlich vereinbaren. Vor allem sollte zu Anfang der Proxy-Partei entschieden werden, dass in deren Liquid Democracy namentlich abgestimmt wird. Hier braucht es digitalen Mut. Wenn das Programm einer (potentiell) im Bundestag abstimmenden Partei individuell mitgestaltet werden soll, sollten die Einzelnen auch namentlich zu den Entscheidungen stehen. Diese würden im Regelfall im internen Bereich verbleiben und insbesondere erlauben, Abstimmungsergebnisse zu verifizieren und Vertrau-en zu anderen Mitgliedern aufzubauen.

Die Vision eines neuen Parteienmodells von Peter Monien ist durchdacht und bietet viele Anknüpfungspunkte, Demokratie direkter zu gestalten und dabei den technologischen Fort-schritt zu nutzen. Das Buch stellt hierbei die richtigen Fragen und nähert sich auf pragmatische und umsichtige Weise der Frage nach mehr Bürgerbeteiligung auf Bundesebene. Das entworfene Modell hat das Potential, die bestehenden Parteien über-flüssig zu machen. Projizieren wir unsere Präferenzen prozentgenau ins Parlament! Per Proxy-Partei.

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