Abtreibungsrecht in den USA: Direct democracy rules!

Am 8. November waren Zwischenwahlen in den Vereinigten Staaten. Die Wahlen zur Halbzeit von Joe Bidens Präsidentschaft sind ein Stimmungstest und setzen wichtige Signale für das ganze Land. Die Mehrheitsverhältnisse im gesetzgebenden Kongress haben sich geändert. Und einmal mehr hat sich gezeigt: Direktdemokratische Entscheidungen zusätzlich zu Wahlen sind sinnvoll. Beim Thema Abtreibungsrecht haben die Abstimmenden in allen Fällen das Recht auf Abtreibung gestärkt (Verschärfung abgelehnt oder das Recht eingeführt). Damit haben sich viele in einer wichtigen Sachfrage gegen die Linie der von ihnen eigentlich bevorzugten Partei ausgesprochen. Direct Democracy rules!

 

Update: Der konservative Erdrutsch bleibt aus, Abtreibungsgegner verlieren

vom 14.11.22

Nun sind sie da, die Ergebnisse der Zwischenwahlen in den Vereinigten Staaten – und sie überraschen. Denn die Demokratische Partei schneidet besser ab als laut Prognosen erwartet. Der große Sieg der Republikaner bleibt aus. Zusätzlich bestätigt sich eine andere Vermutung: Mit Hilfe der direkten Demokratie haben auch konservative Wählerinnen und Wähler zugunsten des Rechts auf Abtreibung entschieden und damit der Linie "ihrer" Partei widersprochen.

Die Partei von Präsident Joe Biden kann ihre knappe Mehrheit im Repräsentantenhaus voraussichtlich nicht verteidigen. So war es auch prognostiziert. Doch die Verluste fallen weitaus geringer aus als erwartet. Das wird laut Experten auch nach Auszählung aller verbleibenden Stimmen so sein. Seit der Nacht zum Sonntag steht fest, dass die Demokraten zukünftig die Mehrheit im Senat besitzen. Beide Parteien erlangten jeweils 50 Sitze. Kommt es allerdings drauf an, kann die Vizepräsidentin und Vorsitzende des Senats, Kamala Harris, in einem Stichentscheid die Mehrheit für ihre Partei sichern.

Das liegt nicht zuletzt an der Debatte um das Thema Abtreibungsrechte. Die Demokraten hatten es zu ihrem zentralen Wahlkampfthema gemacht und damit viele Menschen mobilisiert. Aber auch für republikanische Wählerinnen und Wählern war es ein wichtiges Thema. Sie konnten zugunsten von Abtreibungsrechten entscheiden, unabhängig von ihrer Stimme für die konservative Partei. In Kentucky, dem konservativsten der fünf Bundestaaten in denen das Thema Abtreibungsrechte zur Abstimmung stand, stimmten etwa 53 Prozent der Wählerinnen und Wähler gegen einen Verfassungszusatz, der das geltende Abtreibungsrecht verschärft. Einen ähnlichen Vorschlag lehnten die Menschen in Montana ab. In Kalifornien, Michigan und Vermont entschieden sie: Das Recht auf Abtreibung wird in die Verfassung der drei Bundesstaaten aufgenommen.

Übersicht: Abstimmungen 2022 zum Thema Schwangerschaftsabbruch

 

Für alle die Lust haben, sich weiter mit den Fragen „Wie steht es um die direkte Demokratie in den USA?“ und „Was bedeuten die Zwischenwahlen für die amerikanische Demokratie?“ zu beschäftigen: Am Wahlabend vergangene Woche haben wir dazu im Format „Mehr Demokratie im Gespräch“ diskutiert. Gäste waren Daniela Vancic von Democracy International und den Democrats Abroad und Professor Hermann Heußner von der Hochschule Osnabrück.

Veranstaltung "Demokratie in den USA" vom 8. November 2022


Abtreibungsrechte: Jetzt ist die direkte Demokratie gefragt!

vom 7.11.22

Der Kongress der Vereinigten Staaten besteht aus Repräsentantenhaus und Senat. Seine Hauptaufgabe ist die Gesetzgebung auf nationaler Ebene. Am kommenden Dienstag wird das Abgeordnetenhaus komplett neu gewählt. Derzeit haben die Demokraten dort eine knappe Mehrheit, während sie im Senat, in dem etwa ein Drittel der Sitze neu besetzt werden, mit den Republikanern gleich aufliegen. Auch neu gewählt werden in einigen Bundesstaaten Gouverneure.

In diesen fünf Bundesstaaten stimmen Bürgerinnen und Bürger außerdem zum Thema Abtreibungsrechte ab: Kalifornien, Kentucky, Michigan, Montana und Vermont. Seit der Grundsatzentscheidung Roe v. Wade 1973 war das Recht auf Abtreibung landesweit verfassungsmäßig geschützt. Im Juni diesen Jahres hob der oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten die Grundsatzerklärung auf, seitdem ist es Sache der einzelnen Bundesstaaten.

Rund die Hälfte der 50 Bundesstaaten hat daraufhin Abtreibung verboten beziehungsweise stark eingeschränkt oder planen, dies zu tun. Für die Republikaner, die seit Jahren für schärfere Abtreibungsrechte kämpfen, war dies ein großer Gewinn. Für die Demokraten steht fest: Roe v. Wade soll wieder in Kraft treten. Doch im Senat scheiterten sie bislang damit.

Dass bei den Zwischenwahlen in den liberalen Staaten Kalifornien und Vermont zugunsten des Rechts auf Abtreibung gestimmt wird, verdeutlichen Umfragen. Zudem zeigen diese, dass das wahrscheinlich auch im weniger liberalen Michigan der Fall sein wird. Überraschend wäre das nicht, denn bei der Präsidentschaftswahl 2020 erreichten die Demokraten eine Mehrheit in den drei Staaten. Anders als in Kentucky und Montana, dort gewann Donald Trump deutlich.

Deshalb könnten die Zwischenwahlen nun entscheidend sein: Glaubt man den Prognosen, werden mehr wahlberechtigte Amerikanerinnen und Amerikaner für die Republikaner stimmen als für die Demokraten. Die Mehrheit im Kongress geht somit an die konservative Partei und erschwert Joe Biden die Regierungsarbeit. Doch es bedeutet nicht, dass die konservative Wählerschaft am kommenden Dienstag auch für schärfere Abtreibungsrechte stimmt.

Die Stärke direkter Demokratie zeigt das Beispiel Kansas. In dem sonst republikanisch dominierten Bundesstaat – 2020 wählten fast 60 Prozent Trump - stimmten Bürgerinnen und Bürger im August dieses Jahres mit ebenso großer Mehrheit gegen eine Verfassungsänderung zugunsten schärferer Abtreibungsrechte. Sie entschieden in einem Referendum: Abtreibung in Kansas bleibt legal.

Ob am 8. November in Kentucky und Montana auch so gestimmt wird, bleibt abzuwarten. Doch eins ist klar: direkte Demokratie bietet Wählerinnen und Wählern ganz unabhängig von ihrem Wahlverhalten die Chance, zu ganz bestimmten Themen zu entscheiden. Gerade das Thema Abtreibungsrechte scheint die amerikanische Bevölkerung dabei zu mobilisieren.

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