Bericht vom Weltsozialforum 2007 in Kenia (4. Teil)

Roman Huber schildert seine Erlebnisse auf dem Weltsozialforum. 

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Probleme der Demokratie in Kenia / Afrika

Auch in Afrika stellt sich die berühmte Frage: "Brauchen wir drei Parteien oder drei Mahlzeiten am Tag?" Und tatsächlich, wie sollen Wahlen in sogenannten "failed states", also zerfallenen Staaten stattfinden? In denen Bürgerkriege und Warlords herrschen? Urnengänge ohne Infrastruktur, Lokalverwaltung, Wählerregister? Wahlkämpfe ohne Medien? Auch das eigentliche Subjekt fehlt teilweise, der aufgeklärte Bürger, die Mittelschicht, die Zivilgesellschaft, die demokratische Reformen nachhaltig einfordert. 

Ich hatte öfter das Gefühl auf dem WSF, das viele Menschen, die höchstengagiert auf lokaler Ebene arbeiten, mit dem abstrakten Zeug, von dem wir reden, gar nichts anfangen können. Es geht in erster um sauberes Wasser, Armut, Schule, familiäre Probleme, Krankheit etc. Viele Menschen sind sich Ihrer grundlegenden Bürgerrechte nicht bewusst, deshalb ist sicher Bildung und civic education zentral. 

Unsere voll ausgebaute dreistufige Volksgesetzgebung ist oft kaum vermittelbar. Eine wichtige Zwischenstufe könnte sein: Die Möglichkeit von recall = Abwahl. Das versteht jeder und bietet einen potentielle Lösungsansatz für Machtmissbrauch und Korruption. Außerdem entspricht das eher der "Leaderorientierung" vieler Afrikaner. 

Stammesstrukturen / Tribes

Ein für mich ganz neues Problem ist die extreme Ausrichtung der Parteien entlang der ethnischen Grenzen. Alle großen Parteien sind reine Stammesvertretungen und keine Programmparteien. Mitglieder des eigenen Stammes werden bei der Besetzung von Posten in Politik und Verwaltung bevorzugt. Schon der erste Präsident Kenyatta ein Kikuyu, der größte Stamm Kenias, praktizierte dies exzessiv. Die folgenden Präsidenten taten es ihm gleich. Als wir später in der Gegend des Mount Kenya unterwegs waren und über Politik sprachen, hörte ich nie ein kritisches Wort über die jetzige Regierung. Oh Wunder, wir befanden uns im Stammgebiet der Kikuyu und der aktuelle Präsident Kibaki ist wieder Kikuyu. 

Ein Journalist von TV Nation erläuterte uns die verschiedenen Stämme und meinte aber erstaunlicherweise, dass sie gar nicht so unterschiedlich seien. Viele Traditionen und Riten seien ähnlich, die Sprache sei in einigen Fällen der Hauptunterschied. Dennoch ist die Stammeszugehörigkeit eines der wichtigsten Identitätsmerkmale eines Afrikaners und wird beim Kennen lernen untereinander meist im ersten Gespräch erwähnt. Kenianer würden die jeweilige Zugehörigkeit bereits am Namen erkennen. (Ich als Angehöriger eines traditionsbewussten süddeutschen Stammes kann dies vermutlich noch besser nachvollziehen als viele von euch postmodernen Entwurzelten. Eine Stammespartei gibt es bei uns auch und das mit der Spezlwirtschaft haben wir längst schon drauf.) 

Ohne es zu wissen, vermute ich, dass die Zugehörigkeit zum Stamm oft künstlich hochgespielt wird, um konkrete politischen und sozialen Probleme zu übertünchen. Das beliebte "wir" gegen "die da drüben" wird sicherlich auch in Kenia perfekt gespielt. 

Extended Family

Die Familie, der Clan, die Verwandten, das Heimatdorf sind die noch engere Struktur innerhalb des Stammes, in die jeder eingebunden ist. Jeder Verdiener ist verpflichtet zu helfen, nicht nur in der Politik. Medikamente für die Tante, die Schuluniform für die Cousinen, die Rate fürs Auto vom Bruder. Was wir Vetternwirtschaft nennen gebietet hier die Sitte. Die extended family stellt in der traditionellen Gemeinschaft das soziale Netz dar und sichert das Überleben. Für viele Aufsteiger sicherlich unwahrscheinlich lästig. Wer aus der Gleichheit der Armut aufsteigt, wird potentiell wieder hinuntergezogen. Solange sich kein funktionierendes Wohlfahrtssystem bildet, wird sich das auch nicht ändern. 

Mir drängten sich Parallelen zum Kastensystems Indiens oder Sri Lankas auf. Denn einerseits ist die Familie Sozialsystem, aber andererseits, wer nebenan im Dreck liegt und nicht zur Familie gehört, interessiert nicht. (Dies erzählte mir zumindest ein Paar, das seit eineinhalb Jahren in Afrika unterwegs war). 

Altafrikanische Demokratie bzw. Regierungsformen

Eine These war: Die westliche Demokratie passe nicht zur Tradition der Konsens- und Palaverdemokratie Afrikas (Palaver in seiner ursprünglichen Bedeutung einer religiösen oder gerichtlichen Versammlung). Ältestenräte, Konzile, teilweise mit matrilinearen Auswahlverfahren seien der eigene Weg und Zugang zur Demokratie. 

Die Autoritäten des alten Afrika sind die Hüter der Tradition, sie kommunizieren mit den Ahnen, schlichten Streit, regeln Streit und interpretieren die mündliche Überlieferung. 

Man müsse an die früheren, vorkolonialen Traditionen anknüpfen und den eigenen Weg zur Demokratie finden. Teilweise werden diese Zeiten meines Erachtens auch etwas verbrämt, wir waren alle Brüder und Schwestern, alles war gut. 

Gegen-These eines Senegalesen: Die Existenz von früheren, demokratischen Reichen sei ein Mythos. Wir müssen unsere jetzige Schwachheit erst einmal realisieren, erst dann können wir sie im nächsten Schritt überwinden. Um sie überwinden zu können, braucht es Demokratie. 

Im Nationalarchiv Kenias habe ich mir viele Originalfotos aus der Zeit des Mau-Mau-Aufstandes vor der Unabhängigkeit, von vielen früheren Chiefs und den politischen Honoratioren angeschaut. Eine zentrale Person war Jomo Kenyatta, charismatischer, erster Präsident Kenias, der für die Unabhängigkeit kämpfte, aber letztlich vollständig autokratisch war. Präsident Kenyatta im feinen Zwirn hatte auf fast jedem offiziellen Bild seinen Häuptlingsstab in der Hand, wie ein König sein Zepter. Magie und Moderne = Macht. 

Neuere Geschichte Kenias

Kenyattas Nachfolger, Daniel arap Moi, war noch diktatorischerer. Er regierte von 1978 bis 2002. Bemerkenswert an ihm war jedoch, dass er seine Wahlniederlage im Jahre 2002 akzeptierte und ein gewaltloser Regierungswechsel stattfand. Nicht gerade üblich für einen Big Man in Afrika. Die übermächtige KANU (Kenya African National Union) verlor erstmalig seit der Unabhängigkeit die Macht. Der neue Präsident Kibaki ist allerdings auch Vertreter des Establishment, er war Minister unter Kenyatta und Stellvertreter Mois bis er ausscherte und mit einem neuen Parteienbündnis die Wahl gewann. 

Verfassungsprozess in Kenia

Nach 2002 wurde eine neue Verfassung mit intensiver Beteiligung der Zivilgesellschaft in einer Art Nationalversammlung ausgearbeitet (der sogenannte Bomas Draft). Dieser Verfassungsentwurf wurde dem Volk allerdings in stark veränderter Form vorgelegt (als sogenannter Wako-Draft) und konsequenterweise abgelehnt. Umfragen zeigten eine Drei-Viertel-Mehrheit für den ursprünglichen Bomas-Entwurf. Nun steht die Regierung vor einem ähnlichen Dilemma wie die EU: irgendwie muss sie eine neue Verfassung durchkriegen und will sicher aber vor grundlegenden Reformen im Sinne der Bürger und einem neuen Referendum drücken. 

Medienlandschaft

Medien berichten teilweise sehr kritisch über die Regierung, es scheint relative Pressefreiheit zu geben. Kenianer sind passionierte Zeitungsleser. Jede Zeitung wird zig mal gelesen. Auf der oberen Hütte (4300 m) auf dem Mount Kenya bereiteten wir unserem Caretaker (=Hüttenwirt) William eine riesige Freude, als wir ihm eine Daily Nation (die angesehenste Zeitung Kenias) überreichten. Die Daily Nation ist übrigens im Besitz des Aga Khans, dem ismaelitischen Glaubensführer. 

Democracy Audit / Bestandsaufnahme der Demokratie

Nun zur versprochenen Entdeckung, zur fruchtbarsten Begegnung auf dem WSF: MS Denmark (www.ms.dk) ist eine der großen dänischen Entwicklungshilfeorganisationen, die seit den Fünfzigern in Afrika aktiv sind. Vor ca. fünf Jahren haben sie eine massive Korrektur ihrer Vorgehensweise vorgenommen. Aus der Erkenntnis heraus, dass Entwicklungshilfe Projekte u.a. langfristig nur dann etwas bringen, wenn gleichzeitig die politischen Strukturen verändert werden, konzentrieren sie sich jetzt auf Demokratisierung und den Aufbau von Management Skills. 

Mehrere Tochterorganisationen (MS Kenia, MS Uganda, MS Botswana etc.) waren mit eigenen Ständen präsent. Alle mit dem gemeinsamen starken Slogan "Democracy is a way of life". Sie verschenkten T-Shirts und gute Materialien und boten eine Reihe von Workshops an. 

Ein zentraler Baustein ihrer Demokratiearbeit ist der sogenannte Democracy Audit, also eine Prüfung und Bestandaufnahme der Demokratie im jeweiligen Lande (bisher in 10 Ländern). Dazu wurde ein von der Universität von Essex (UK) von Prof. Stuart Weir in Zusammenarbeit mit International IDEA (International Institute for Democracy and Electoral Assistance) entwickelter, achtseitiger Fragebogen verwendet: www.ms.dk/sw47133.asp In England entstand aufgrund dieses Audit bereits eine breite Diskussion über den Stand der Demokratie in den Medien. 

Zur Beantwortung wurden nach dem Zufallsprinzip Fokusgruppen im jeweiligen Lande gebildet (ähnlich wie bei Planungszellen). Bevor die Audit-Fragen beantwortet werden, klären "facilitators" mit den Teilnehmern die Grundlagen der Demokratie. Dieser Prozess des Klären von demokratischen Werten und Prinzipien stellt bereits einen Wert in sich dar. Die Auswertung der Ergebnisse in den einzelnen Ländern erfolgte in der Regel qualitativ und nicht statistisch repräsentativ. In einigen Ländern (wie z.B. Uganda) wurde zusätzlich eine statistisch repräsentative Umfrage gemacht und deren Ergebnisse wichen kaum von der qualitativen Auswertung ab. 

Vom Demokratieverständnis ist uns MS Denmark nahe: "popular control over decision maker and decision making." Unseren Voten und Redebeiträgen bezüglich von unten initiierten, verbindlichen Volksentscheiden stimmte zumindest der auf dem WSF Verantwortliche völlig zu, in den Materialien fehlen diese Punkte jedoch. 

Die Auditergebnisse eignen sich nicht, um Länder untereinander zu vergleichen, vielmehr den Fortschritt innerhalb des jeweiligen Landes von Jahr zu Jahr zu messen. Beispiel: Die Dänen bewerten derzeit ihre Demokratie recht schlecht mit "3,2", hingegen sind die Jordanier - aufgrund einiger demokratischer Verbesserungen in ihrer Monarchie (!) - derzeit sehr euphorisch und geben die Note "1,7". 

Der Unterschied gegenüber dem bekanntesten Demokratie- und Freiheits-Index von Freedom House, einer amerikanischen NGO, die seit den 50ern weltweit die Freiheits- und bürgerlichen Rechte in allen Ländern der Erde misst, besteht in der Betonung der Gleichheitsdimension der Demokratie gegenüber der Freiheitsdimension. 

Erstaunlich ist, wie ähnlich die Unzufriedenheit der Menschen mit der realen Demokratie in den zehn verschiedenen Ländern sind, MS leitete davon mehrere konkrete Verbesserungsschritte ab. 

Nachtrag: Ich habe eben im Internet recherchiert, dass MS Denmark im Jahr 2004 Einnahmen von 26 Mio. Euro (!!) hatte, 85 Prozent davon stammen vom dänischen Außenministerium. Klar, dass sie nicht ganz politisch ungebunden sind, wie Lars einmal andeutete. 

Meine Überlegung: Demokratie Audit in Deutschland

Ich denke, Mehr Demokratie sollte in Deutschland eine solche Bestandaufnahme der Demokratie durchführen und einen jährlichen oder zweijährlichen Demokratiebericht vorlegen. 

Rahmenbedingungen

Wir erweitern den bestehenden Fragebogen auf unsere Bedürfnisse, d.h. um den direktdemokratischen Aspekt. (MS hat den ursprünglichen Fragebogen ebenfalls erweitert um die Dimensionen Armut und internationale Dimension für ihre Arbeit in Entwicklungsländern). Wir arbeiten mit der Universität Essex und ggf. IDEA zusammen. Das Projekt wird auf mehrere Jahre anlegt und jedes Jahr (oder jedes zweite Jahr) legen wir DEN Demokratiebericht vor. 

Vorteile dieses Projektes

  • Wir weisen die demokratischen Defizite nach, wie sie von den Bürgern erlebt werden.
  • Dies wäre eine weitere strategische Erweiterung des Profils von MD, ein erster wichtiger Schritt zum demokratischen Gewissen Deutschlands.
  • Wir legitimieren unsere Forderungen und unsere Arbeit durch die Bürger (nicht wir sind die Schlauen).
  • Im Idealfall machen wir dann Kampagnen, um die ermittelten Defizite zu verbessern und weisen dann im nächsten Audit die Verbesserung nach.
  • Eine Kooperation mit MS Denmark ist möglich. Der Fragebogen existiert und wurde bereits international getestet. Kinderkrankheiten und erste Fehler sind bereits ausgemerzt.
  • Das Projekt kann von all unseren Partnern im Democracy-International-Netzwerk übernommen und adaptiert werden.
  • Eigenständiges Fundraising für das Projekt ist sehr gut möglich und vermutlich erfolgversprechend.
  • Studien, Hintergrundberichte etc. laufen unserer bisherigen Erfahrung nach medial vergleichsweise gut.
  • Wenn es uns gelingt diesen Audit absolut unabhängig und seriös aufzusetzen, hat so ein (zwei)jährlicher Demokratiebericht hat das Zeug zu einer Institution zu werden. 

Ich werde das ganze natürlich noch weiter ausarbeiten und Vorstand und Mitgliederversammlung zur Diskussion und Entscheidung vorlegen. 

Slumreport

 

Eine Selbsthilfegruppe von Slumbewohnern organisierte für Teilnehmer des WSFs Besuche in einem nahegelegenen Slum. Von über 3 Mio. Einwohnern Nairobis wohnen ca. die HÄLFTE in Slums, der größte Slum heißt Kibera mit 700.000 Einwohnern commons.wikimedia.org/wiki/Image:Kibera.jpg Die Hauptprobleme in Slums sind Verbrechen, Drogen und Prostitution. Bei einer Arbeitslosenrate von 80% kaum verwunderlich. Die meisten Bewohner sind unter 20 Jahre alt. In den Slums haben sich informelle, selbstorganisierte Schulen gebildet. Von der Selbsthilfegruppe werden Müllsammlern Overalls gestellt, Trommeln bereit gestellt, um damit auf der Straße Geld verdienen zu können, Sport, Theater und Artwork wird unterstützt. Das Land, auf denen sie leben, gehört ihnen nicht, d.h. sie sind potentiell ständig von Räumung durch Bulldozer bedroht, was auch ab und zu vorkommt. Pistolen kosten 20 Dollar. (In der Zeitung stand, eine AK 47, also eine Kalschnikov kostet 2000 Schilling = 24 Euro). Mit Schnüffeldrogen (brown sugar) und billigstem Fusel versuchen viele Slumbewohner der Realität zu entfliehen.

 

Global Day of Democracy

Der letzte WSF-Tag war ab Nachmittag von Workshops freigehalten. In diesem open space konnten auf dem WSF entstandene Begegnungen vertieft, neue Ideen weiterdiskutiert und Allianzen geschmiedet werden. Die Demokratiebewegungen mit ca. 50 Vertretern trafen sich, um eine gemeinsame Aktionen zu besprechen. 

Wir einigten uns auf einen gemeinsam durchgeführten Global Day of Democracy im Herbst 2007. Dazu trugen wir nicht unwesentlich bei. Ich bin im Vorbereitungskomitee und SEHR gespannt, was aus diesem Vorhaben wird. 

Am letzten Tag fand ein Marathon (15 km) durch die Slums Nairobis statt und eine Abschlusskundgebung mit kulturellem Schwerpunkt im Zentrum Nairobis. 

Kurzes Fazit des WSF

Im freute mich darauf, die Kolumne im East African Standard zu lesen, die ein Fazit des WSFs für Kenia zog: Zu meiner Überraschung war der Tenor, das WSF war Erfolg, weil es ein Riesengeschäft war. Endlich waren einmal wieder die Hotels ausgebucht, die Gastronomen und Transportgewerbler verdienten und Nairobi hat sich als internationaler Konferenzausrichter empfohlen. Klar, auch eine nicht unwichtige Sicht der Dinge.

Leider haben die Organisatoren, wie das International Council berichtete, noch ein Defizit von 550.000 US Dollar. Für mich besteht ein gewisser Widerspruch, wenn das WSF einerseits mit erheblichem Aufwand an gemeinnütziger Arbeit und Geld organisiert und finanziert wird und sich dabei verschuldet, andererseits wirtschaftliche Strukturen in der Region massiv ökonomisch davon profitieren. Man müsste kreative Möglichkeiten überlegen, dies auszugleichen. 

In den Zeitungen waren aber auch profunde Analysen zu lesen, welche ideellen Fortschritte und Anregungen das WSF für Kenia gebracht hat, z.B. eine vertiefte Diskussion über den Zusammenhang von Menschenrechten, Armut und Korruption und der Notwendigkeit von breiten Informationsrechten. Weitere Artikel wie "Putting African issues into the global agenda" und "Life will never be the same"... Über das WSF wurde in Kenias Medien generell sehr prominent berichtet. Auch wenn wir auf unserer weiteren Reise über unsere Teilnahme am Forum berichteten, war dies Vielen ein positiver Begriff. 

Die internationale Zivilgesellschaft und WSF-Bewegung wurde um die spezifisch afrikanischen Themen und Diskurse bereichert. Was Viele sonst nur aus abstrakten Statistiken über Armut und Elend kannten, wurde mit konkreter Erfahrung aufgefüllt. Die Hauptthemen auf dem WSF waren die existentiellen Alltagsprobleme der afrikanischen Realität: sauberes Wasser, HIV/Aids, Gewalt, Korruption, Verschuldung usw. 

Für mich persönlich war es (gemeinsam mit dem indischen WSF) die weitaus beeindruckendste Erfahrung, die ich diesem Bereich überhaupt gemacht habe. 

Das nächste WSF wird im Jahre 2009 stattfinden. Mein persönlicher Vorschlag wäre in Südostasien in der Nähe Chinas. Ich kann nur jedem empfehlen, einmal an einem WSF teilzunehmen. 

Ganz herzliche Grüße 

Roman 

P.S. Im Anschluß fuhren wir an die Küste nach Mombasa, machten eine Safari im Tsavo Nationalpark und Michi und ich bestiegen unter großen Mühen den Mt. Kenya. Viele tolle Erfahrungen, aber das ist eine andere Geschichte. 

Anhang: Gedanken zur Situation in Afrika

Im Grunde beschäftigte mich auf Schritt und Tritt die Frage, WARUM? Warum ist Schwarzafrika der einzige Kontinent der Erde, in dem es, zumindest nach den herrschenden wirtschaftlichen Kriterien, bergab geht. 

Auszug aus dem Buch von Bartholomäus Grill "Ach Afrika":

"Der schwarze Erdteil ist das Schlusslicht der Weltwirtschaft, sein Anteil am globalen Handel ist auf knapp ein Prozent gesunken. Das gesamte Bruttoinlandsprodukt der Subsaharastaaten liegt nur unwesentlich über dem von Belgien, wobei ca. ein Drittel davon alleine auf Südamerika fallen. Die Mehrzahl der subsaharischen Länder steht heute schlechter da als zum Ende der Kolonialära. Drei Viertel der 650 Millionen Afrikaner leben in Armut, jedes dritte Kind ist unterernährt. Die Nahrungsmittelproduktion hält nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt." 

Grills Buch hat mich sehr inspiriert und mir viele Zusammenhänge klarer gemacht, Grill war von 1993 bis 2006 Afrika-Korrespondent der ZEIT. 

Im folgenden habe ich alle gehörten, beobachteten und gelesenen Faktoren, die für die beschriebene Malaise im Subsahara-Afrika eine Rolle spielen können, zusammengetragen. Das ganze ist natürlich nicht vollständig, nicht durchstrukturiert, nicht überprüft, aber regt vielleicht zum Nachdenken an. 

300 Jahre Sklaverei und Sklavenhandel in Afrika:

  • 50 Millionen Menschen wurden verschleppt oder umgebracht.
  • Der Sklavenhandel wäre ohne die Beteiligung von afrikanischen Eliten nicht möglich gewesen.
  • Laut Wikipedia: Opfer des innerafrikanischen Sklavenhandels (als Afrikaner versklaven Afrikaner) 10-15 Millionen, Opfer des orientalischer Sklavenhandels (Araber / Moslems versklaven Afrikaner) 6-17 Millionen, Opfer des atlantischen Sklavenhandels (Weiße versklaven Afrikaner) ca. 12 Mio. Opfer. 

100 Jahre Kolonialismus:

  • Nach hundert Jahren Plünderei wurden nur künstliche Staatshülsen übrig gelassen in willkürlich mit dem Lineal gezogenen Staatsgrenzen, die verschiedene Ethnien zusammenzwingen. Schwere Konflikte waren vorprogrammiert.
  • Wirtschaftliche Strukturen und Landwirtschaft waren einseitig auf Ausbeutung ausgerichtet: monokulturell ausgelegter Export von Agrarprodukten und Bodenschätzen.
  • Entwurzelung aus Traditionen (vielleicht teilweise auch positiv, weil archaisch und unmenschlich, aber zu schnell und radikal) 

Afrikanische postkoloniale Despoten = Big Man

  • Nach der Unabhängigkeit Alleinherrscher wie Mobutu, Idi Amin, Bokassa, Kenyatta
  • Übernahmen nach der Fremdausbeutung die Selbstausbeutung
  • Weitverzweigtes, klientelistisches Pfründe-System
  • Unterstützung dieser Diktatoren bis 1989 durch Washington, Moskau, Paris und Peking (Hauptsache "unser Schweinehund")
  • Komplotte z.B. gegen demokratisch gewählten Patrice Lumumba im Kongo 

Nach 1989

  • Teilweise Sturz der Big Men, danach Machtkämpfe, Anarchie und Chaos
  • Failed states
  • Warlords finanziert von Waffenhändlern, Söldneragenturen, Geldbeschaffern
  • Multinationals, die an natürlichen Ressourcen verdienen (Bodenschätze, Tropenholz, Agrarprodukte). Bestes Beispiel ist D.R. Kongo 

AIDS / HIV und andere Krankheiten

  • Nahezu 30 Millionen Menschen sind HIV-infiziert oder an AIDS erkrankt. Die durchschnittliche Lebenserwartung ist auf 48 Jahre gesunken.
  • Für Big Pharma lohnt es nicht Medikamente für dritte Weltkrankheiten zu entwickeln, Fettabsaugtechniken etc. bringen mehr Gewinn 

Frauen

  • Haben teilweise überhaupt nichts zu melden. Sonya und ich haben das teilweise auf den Märkten genutzt. Viele Händler sind ja extrem penetrant, wenn ich dann aber als Mann zu meiner Frau (Sonya) streng "nein" sagte, war für weibliche Händler der Fall erledigt (HE said "no", also Ende)
  • Frauenbeschneidungen, schockiert war ich in Nairobi über Schilder auf der Strasse wie "circumcision here" (Beschneidung hier) 

Klima

  • Extreme Klimabedingungen, Wüste, Dürreperioden, Missernten 

Landwirtschaft

  • 80% der Bevölkerung (zumindest Kenias) ist in der Landwirtschaft beschäftigt, allerdings nur in kleinen Subsistenzbetrieben
  • Landwirtschaft zur Nahrungsmittelsicherung wird vernachlässigt, altes Wissen geht verloren bzw. neue Anbaumethoden waren nie da
  • Die cash crops, d.h. die Exportpflanzen, die Geld bringen wie Tee und Kaffee (machen 20% des gesamten Exports Kenias aus) werden nur auf großen Plantagen produziert, die im Besitz von weißen oder schwarzen Eliten sind.
  • Die Landflucht führt zu verödeten Landschaften und unregierbaren Megacities mit riesigen Slums 

Wirtschaft

  • Kaum Direktinvestitionen aus dem Ausland (rein ökonomische Rahmenbedingungen sind in anderen Kontinenten wesentlich besser)
  • Entwicklungshilfeprojekte haben auch negative Effekte, hemmen Unternehmertum, zerstören lokale Märkte, unterstützen lokale, repressive Regimes etc.
  • Mir ist kaum ein größeres börsennotiertes, schwarzafrikanische Unternehmen bekannt (Ausnahme Ashanti Gold Fields)
  • Die informelle Ökonomie ist stark ausgeprägt, sie heißt auf Kisuaheli "Jua Kali" = stechende Sonne, weil meist im Freien gearbeitet wird, aus Autoreifen werden Sandalen gefertigt, Schreinerwerkstätten und Tausende von fliegenden Händlern. Dies ist kein Negativargument, eher ein positives, weil es zeigt mit welcher Kreativität die Armut bekämpft wird.
  • Es wird wenig produziert und fast keine Qualitätsprodukte gefertigt. Viel Ramsch kommt billig aus Asien, auch Textilien und Lebensmittel etc.
  • Wenig Vorausschau, kaum mittel- oder langfristige Planung 

Psychische, kollektive Trauma

  • Durch Sklaverei, Kolonialismus, Entwurzelung, Identitätsverlust
  • Aber auch Weigerung das eigene Schicksal in die Hand zu nehmen.
  • Opfermentalität 

Religionen

  • Aberglauben, als Hexer verdächtigte Personen werden noch heute gesteinigt (war in der Zeitung zu lesen), teilweise wird dadurch aber auch versucht missliebige Personen aus dem Weg zu räumen
  • Geister, Ahnen, Kobolde etc. (teilweise Bräuche ähnlich wie im strengen alpenländischen Katholizismus wie z.B. das Haberfeldtreiben als kollektive Bestrafung für einen Lump)
  • Das Leben findet in einer magischen, vor aufgeklärten Welt statt, z.B. AIDS kommt von der Wolke auf der Bergspitze 

Zum Abschluss

Was in Afrika zu zählen scheint ist das Hier und Jetzt. Expressiv. Voller Ausdruck und Humor. Gelassen. Optimistisch, trotz allem. Das Wort auf kongolesisch für gestern, heute und morgen ist das gleiche, alles ist im Fluss. 

Roman Huber

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