Bürgerbeteiligung verbindlicher machen!

Der von Mehr Demokratie in Baden-Württemberg entwickelte Mitspracheantrag ist eine bundesweite Innovation zur Stärkung der Bürgerrechte und Weiterentwicklung der Demokratie. Wir hoffen, dass dieser auch für andere Bundesländer zum Vorbild wird.

In diesem Beitrag erläutert Sarah Händel, unsere Pressesprecherin in Baden-Württemberg, die Notwendigkeit eines Gesetzesentwurfes zur Änderung der Gemeindeordnung in Baden-Württemberg, der das Initiativrecht der Bürgerschaft zur Beteiligung in einer Sachfrage einführt.

Wie erreichen wir mehr demokratische Kultur?

Die Zeitdiagnose einer Krise der Demokratie ist allgegenwärtig. Zunehmend verlieren Menschen das Vertrauen in das politische System: Sie fühlen sich von den politischen Entscheidungsträger/innen in vielen Sachfragen nicht mehr ausreichend vertreten. Da erschien die Wahl einer neuen baden-württembergischen Landesregierung, die sich den Aufbruch zu einer „Kultur des Gehörtwerdens“ und des „Mitbestimmens“ ganz oben auf die Fahne schrieb, als Lichtblick. Die Krise der Demokratie sollte nicht länger verleugnet werden, viel mehr wollte man ihr aktiv entgegentreten. Aber wie kann er gelingen, der kulturelle Wandel hin zu einer lebendigeren Demokratie, die durch die Bürger/innen aktiv mitgestaltet wird? Ein erster Schritt liegt nahe: Die gesetzlich garantierten Mitspracherechte der Bürger/innen müssen ausgeweitet und gestärkt werden.

Um dies zu erreichen kann mit einer Senkung der Hürden für direktdemokratische Verfahren (Volksbegehren und –entscheide) begonnen werden. Dadurch werden die Bürger/innen ermutigt, die Entscheidungsmacht auch einmal an sich zu ziehen, wenn sie zur Auffassung gelangen, dass die Planungen der Politik in eine falsche Richtung gehen. Oder wenn es um sehr grundsätzliche Entscheidungen geht, die durch die zusätzliche Legitimation einer Volksabstimmung bestärkt werden sollen. So kann Verantwortung geteilt werden.

Sind die Hürden für direktdemokratische Verfahren fair und ermutigend ausgestaltet, beschleunigen wir den kulturellen Wandel hin zu einer »Bürgergesellschaft« gleich zweifach: Zum einen, weil mehr direkte Demokratie stattfinden kann, zum anderen, weil wir die Haltung der Politikerinnen und Politiker gegenüber den Bürger/innen verändern. Wissen unsere politischen Entscheider/innen, dass die Bürgerinnen und Bürger die Entscheidung an sich ziehen können, werden sie sich bemühen, den Menschen besser zuzuhören, sie mit einzubeziehen und ihre Politik besser zu erklären. Kurzum: Sie müssen den Bürger und die Bürgerin mitnehmen, wenn sie Politik machen. In einer solchen Situation ist es dann auch sehr viel wahrscheinlicher, dass Formen der unverbindlichen Bürgerbeteiligung (z.B. Runde Tische, Bürgerhaushalte, Bürgerbefragungen) breiter und rechtzeitig angewandt werden – schlicht um herauszufinden, wo die Bürger/innen stehen und was sie wünschen.

Die Bürgerschaft von der Bittstellerin zur Handelnden machen

Eine weitere wichtige Möglichkeit, die gesetzlich garantierten Rechte der Bürger/innen zu stärken, ist der von Mehr Demokratie in Baden-Württemberg entwickelte »Mitspracheantrag«. Wenn es nicht um einen Akt der direkten Demokratie ging, waren die Bürger/innen bisher immer darauf angewiesen, dass ein politisches Gremium oder eine Verwaltung sie freiwillig in irgendeiner Weise beteiligte. Ein »Recht auf Beteiligung« hatten die Bürgerinnen und Bürger in aller Regel nicht. Beteiligung sollte jedoch nicht einseitig im Ermessensspielraum der Politik und der Verwaltung liegen. Auch die Bürgerschaft selbst soll Beteiligung anstoßen und verbindlich einfordern können. Dazu braucht es ein Initiativrecht.

Der Mitspracheantrag sieht genau das vor. Mit den Unterschriften von 2 Prozent der Einwohner/innen einer Gemeinde kann eine Initiative ein Beteiligungsverfahren zu einer Sachfrage selbst anstoßen. Jede Gemeinde wird verpflichtet, neben der Einwohnerversammlung und der Einrichtung eines Beirats noch mindestens drei weitere Beteiligungsverfahren anzubieten, aus denen die Bürger/innen auswählen können. Infrage kommen Verfahren wie z. B. repräsentative Befragung, Internet-Forum, Mediation, Planungszelle, Fakten-Check, Experten-Hearing, Bürgerhaushalt, Runder Tisch und viele mehr. Unterschreiben können den Mitspracheantrag alle Einwohner/innen einer Gemeinde ab 14 Jahren. Damit werden zugleich die Rechte derjenigen gestärkt, die nicht wählen dürfen, weil sie zu jung sind und derjenigen, die „nur“ Einwohner/innen und keine deutschen oder EU-Bürger/innen sind. Ist der Antrag ordnungsgemäß gestellt und zulässig, ist die Durchführung des Beteiligungsverfahrens für die Gemeinde verbindlich. Wenn die zu benennenden Vertrauenspersonen einverstanden sind, kann jedoch auch ein anderes Verfahren durchgeführt werden als ursprünglich beantragt. Die letztendliche Entscheidung in der Sache, nach Abschluss des Beteiligungsverfahrens, verbleibt beim Gemeinderat.

Mit dem Mitspracheantrag wird auch die Einwohnerversammlung als ein allen Einwohner/innen offen stehendes Dialogforum gestärkt. Schon jetzt ist in der baden-württembergischen Gemeindeordnung festgeschrieben, dass jede Gemeinde einmal pro Jahr eine solche Versammlung abhalten soll. Doch die meisten Gemeinden ignorieren diese Bestimmung bisher. Durch den Mitspracheantrag sollen die Bürgerinnen und Bürger ein praktikables Instrument in die Hände bekommen, die Durchführung einer Einwohnerversammlung verbindlich zu erwirken. Die kommunale Selbstverwaltung garantiert den individuellen Gestaltungsspielraum für die Kommunen.

Ein Recht auf Beteiligung gesetzlich festzuschreiben hat nicht das Ziel, die Gemeinden einzuschränken. Vielmehr geht es darum, durch den Mitspracheantrag dafür zu sorgen, dass die Gemeinden sich mit dem berechtigten Anspruch der Bürger/innen auf Beteiligung und den verfügbaren Verfahren auch tatsächlich auseinandersetzen. Ein gesetzlich garantierter Mitspracheantrag stellt sicher, dass Bürgerbeteiligung kein Ausnahmefall bleibt, sondern zu einem integrativen und dauerhaften Bestandteil der kommunalen Demokratie wird. Er ist ein Bekenntnis dazu, dass Mitsprache gewollt ist und ermutigt wird.

Der Mitspracheantrag ist eine bundesweite Innovation. Er hat das Potenzial, eine Praxis der Beteiligung maßgeblich voranzutreiben. Seine Einführung wäre ein mutiger Schritt, der wohl nur getan wird, wenn die Bürgerschaft ihn kollektiv und immer wieder einfordert. Doch ohne solche starken Signale aus der Bürgerschaft und ohne Mut und die Bereitschaft der Politik, Macht ggf. an den Souverän zurückzugeben, um Raum für eine offene Zusammenarbeit von Bürger/innen und Politik zu ermöglichen, werden wir einer Kultur der Beteiligung und damit einer Demokratie der aktiven Bürgerschaft kaum näher kommen.

Mehr Informationen zum Gesetzentwurf: <link http: www.mitentscheiden.de>

www.mitentscheiden.de/8840.html

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