Corona: Wie weiter nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil?

Das Bundesverfassungsgericht hat diese Woche (30.11.) über die sogenannte Bundesnotbremse entschieden. Eine "Ja, aber..."-Entscheidung. Das Gericht sieht durch die Notbremse-Maßnahmen tiefe Eingriffe in verschiedene Grundrechte. In der damaligen Situation sei das allerdings verfassungskonform gewesen.

Eine Einordnung mit Blick auf MD-Positionen von Anne Dänner

Grundrechte wurden verletzt …

Das Bundesverfassungsgericht hat diese Woche (30.11.) über die sogenannte Bundesnotbremse entschieden. Sehr vereinfacht gesagt stellen die Karlsruher Richterinnen und Richter fest, dass im Zuge der Corona-Schutzmaßnahmen tief und an vielen Stellen in die Grundrechte eingegriffen wurde – zum Beispiel durch die Schulschließungen und die Kontaktbeschränkungen. Das Gericht erkennt an, dass Menschen durch diese Maßnahmen Schäden davontragen haben, zum Beispiel durch Defizite bei der Persönlichkeitsentwicklung, Beschneidung zwischenmenschlicher Kontakte und Vereinzelung.

Grundrechtseinschränkungen waren zum damaligen Zeitpunkt vertretbar

Zugleich kommen die Richterinnen und Richter aber zu dem Schluss, dass die Regierung mit der Bundesnotbremse zum damaligen Zeitpunkt verfassungsgemäß gehandelt hat, weil den oben genannten Erwägungen die überragende Bedeutung des Lebens und der Gesundheit gegenübergestanden habe. Die Karlsruher Linie am Beispiel des Themas Schulschließung (entnommen der Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts):

„Das Bundesverfassungsgericht hat mit dieser Entscheidung erstmals ein Recht der Kinder und Jugendlichen gegenüber dem Staat auf schulische Bildung anerkannt. In dieses Recht griffen die seit Beginn der Pandemie in Deutschland erfolgten Schulschließungen in schwerwiegender Weise ein, wie die in den sachkundigen Stellungnahmen dargelegten tatsächlichen Folgen dieser Maßnahmen deutlich zeigen. Diesem Eingriff standen infolge des dynamischen Infektionsgeschehens zum Zeitpunkt der Verabschiedung der ‚Bundesnotbremse’ Ende April 2021, zu dem die Impfkampagne erst begonnen hatte, überragende Gemeinwohlbelange in Gestalt der Abwehr von Gefahren für Leben und Gesundheit und für die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems gegenüber, denen nach der seinerzeit vertretbaren Einschätzung des Gesetzgebers auch durch Schulschließungen begegnet werden konnte.“

Ein „Weiter so“-Urteil ist es nicht …

Unter welchen Bedingungen die massiven Eingriffe gerade noch mit der Verfassung vereinbar waren, führen die Richterinnen und Richter ebenfalls aus: Die zeitliche Begrenztheit der Maßnahmen spielt dabei eine wichtige Rolle. Im Falle der Schulschließungen schreibt das Gericht:

„Die Schulschließungen waren auf einen kurzen Zeitraum von gut zwei Monaten befristet; damit war gewährleistet, dass die schwerwiegenden Belastungen nicht über einen Zeitpunkt hinaus gelten, zu dem der Schutz von Leben und Gesundheit etwa infolge des Impffortschritts seine Dringlichkeit verlieren könnte. Schließlich hatte der Bund bereits vor Verabschiedung der Bundesnotbremse Vorkehrungen mit dem Ziel getroffen, dass etwaige künftige, auch die Schulen betreffende Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie die Schülerinnen und Schüler möglichst nicht mehr derart schwerwiegend belasten.“

… doch es bleibt viel Interpretationsspielraum offen

Das Urteil lässt viel Interpretationsspielraum offen: Zur Enttäuschung derjenigen, die die Grundrechtsverletzungen angeprangert hatten, zieht es keine klaren roten Linien. Und diejenigen, die für strengere Schutzmaßnahmen bis hin zu einer Impfpflicht sind, lesen daraus eine Bestätigung ihrer Position. Dabei wird gerne überlesen, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts sich auf die Situation im April 2021 zu Beginn der „Notbremse“ bezieht. Neue Maßnahmen müssen aktuelle Entwicklungen wie die Weiterentwicklung der Impfungen und Testverfahren, aber auch ein eskalierendes Infektionsgeschehen wie derzeit berücksichtigen. Ein Freifahrtschein für alle denkbaren neuen Maßnahmen ist das Urteil nicht.

Was können wir tun?

Was kann und soll Mehr Demokratie nun dazu sagen? Der Verein hat Forderungen zur Demokratie in Corona-Zeiten formuliert: Dazu gehören auch folgende: „Verhältnismäßigkeit wahren, Verordnungen und Gesetze befristen“ und „Den Umgang mit der Krise evaluieren“. Beides sieht auch das Bundesverfassungsgericht so. Weitere unserer Forderungen sind nicht von juristischer, sondern nur von politischer Seite zu erfüllen: Für „Klare Zahlenbasis, breit besetzte Beratungsgremien und transparente Entscheidungsfindung“ oder „Bürgerbeiräte einrichten“ kann und muss die Politik sorgen. „Die Parlamente müssen die grundlegenden Entscheidungen treffen“ – ebenfalls eine unserer Forderungen. Dies steht jetzt an und zwar zur Frage einer Impfpflicht. Der Fraktionszwang soll bei dieser weitreichenden Entscheidung aufgehoben werden. Nicht einfach durchzuregieren, ist bei einem so strittigen Thema auch geboten.

Das schmerzhafteste Ringen erleben wir gerade einen Punkt der Mehr Demokratie-Position, den ich daher hier vollständig zitieren möchte:

„Gesellschaftliche Solidarität in Eigenverantwortung stärken: Bei komplexen, auch für Expertinnen und Experten häufig sehr schwer zu durchschauenden Ursache-Wirkungs-Ketten müssen unterschiedliche Risikowahrnehmungen in der Gesellschaft so weit wie möglich respektiert werden. Da mittlerweile Impfstoffe vorhanden sind, die für die allermeisten Bevölkerungsgruppen das Risiko eines schweren Covid-19-Verlaufs stark mindern, sollte den Bürgerinnen und Bürgern mehr Raum für Eigenverantwortung zugestanden werden.“

Auch bei unserer eigenen Formulierung ist Interpretationsspielraum, denn „Eigenverantwortung“ lässt sich unterschiedlich verstehen: Bezieht sich der Verweis nur darauf, zu vertrauen, dass mündige und aufgeklärte Menschen von sich aus verantwortlich handeln, um Kontaktverbote und Maskenpflicht zu vermeiden? Oder meint Eigenveranwortung auch, aus Verantwortung für die eigene Gesundheit und die aller anderen, den Impfaufrufen zu folgen, um weitere Einschränkungen von Grundrechten aller zu vermeiden? Wo also beginnt die Solidarität und wo endet die Eigenverantwortung? Während den einen die Impfpflicht in Ordnung oder sogar notwendig scheint, sehen es andere als massiven Eingriff in ihre Entscheidungsfreiheit. Bei Mehr Demokratie gibt es beide Positionen – und viele Nuancen dazwischen. Das Beste, was wir aktuell tun können, um die schwere Situation nicht noch schwerer und die bestehenden Gräben nicht noch tiefer zu machen, ist, weiter miteinander zu reden. In der Politik, im Freundes- und Bekanntenkreis und auch im Verein. Kein befriedigender Vorschlag? Da stimme ich zu! Aber wenn die Alternative dazu ist, komplett zu schweigen, sich nur noch mit Menschen aus der eigenen Blase auszutauschen oder sogar Gift und Galle gegen die „andere Seite“ zu spucken, ist das anstrengende und kräftezehrende Gespräch immer noch die bessere Variante.

Alle Forderungen von Mehr Demokratie finden Sie hier: https://www.mehr-demokratie.de/themen/corona-und-demokratie/unsere-forderungen

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