Deutsches Wahlrecht: “Es ist Zeit, mal über den Tellerrand zu schauen”

Die reguläre Mindestsitzzahl des Bundestages beträgt 598 Sitze, aber momentan sitzen 709 Abgeordnete im Bundestag. Tendenz steigend. Der Bundestag wächst und wächst. Das liegt in erster Linie am veränderten Wahlverhalten von uns Bürgerinnen und Bürgern.

Das Wahlrecht ist ein Algorithmus, der sich über die Jahre nicht wirklich verändert hat. Der Algorithmus spuckt aber immer höhere Zahlen aus, als noch in der Zeit, in der die Volksparteien in Blüte standen.

Wir haben zu dieser Entwicklung ein Gespräch mit unserem Vorstandsmitglied Karl-Martin Hentschel geführt, der selbst lange Jahre im Parlament von Schleswig-Holstein gesessen hat und ausgewiesener Experte im deutschen Wahlrecht ist.

Redaktion: Was ist das Problem am deutschen Wahlrecht?

Hentschel: Das deutsche Wahlsystem, bei dem die Hälfte der Abgeordneten die Wahlkreise vertritt, die Zusammensetzung aber proportional nach Parteien erfolgt, war als Kompromiss gedacht - der aber in einer modernen Welt mit sieben Bundestagsparteien nicht mehr funktioniert und auch in Zukunft nicht mehr funktionieren wird.

Redaktion: Wir fassen nochmal zusammen: Das Zweitstimmenanteil der Volksparteien schrumpft seit Jahren. Das führt vielerorts zu Überhangmandaten und diese zu sogenannten Ausgleichsmandaten. Die zunehmende Differenz von Erst-  und Zweitstimme führt zu einem aufgeblähten Bundestag.

Hentschel: Ja, das stimmt.

Das Problem unseres Wahlrechts besteht aber nicht nur in der wachsenden Zahl der Abgeordneten. Es besteht auch in der Fiktion, dass ein Abgeordneter, der einen Wahlkreis mit unter 25 Prozent gewinnt, die Menschen dieses Wahlkreises vertritt. Noch offensichtlicher ist dies in Großbritannien und den USA, wo eine Regierung regieren kann, die nur die Minderheit der Wähler repräsentiert, ohne auf die Mehrheit Rücksicht zu nehmen.

Redaktion: Dann wäre doch ein reines Verhältniswahlrecht die Lösung?

Hentschel: Nein, überhaupt nicht. Ein reines Listenwahlrecht kann auch keine Alternative sein, da dann der persönliche Bezug der Abgeordneten zum Wahlkreis nicht mehr gegeben ist.

Mehr Demokratie schlägt deshalb eine Lösung vor, die mittlerweile in einem Dutzend von Staaten erfolgreich praktiziert wird: Es werden nicht 50%, sondern 90% der Abgeordneten in Wahlkreisen gewählt. Die Wahlkreise sind deutlich größer. Dann können in einem Wahlkreis mehrere Kandidaten direkt gewählt werden, so dass ein Wahlkreis durch Abgeordnete der Parteien mit den meisten Stimmen vertreten wird - dabei kann dann auch mal ein unabhängiger Kandidat sein. Dann haben in der Regel über 90 Prozent der Wähler eines Wahlkreises einen Ansprechpartner im Parlament, den sie auch gewählt haben. Der Bezug der Abgeordneten zu „ihren“ Wählern wäre viel direkter, Berlin wäre nicht mehr so weit weg. 

Die Wahlkreise hätten dann etwa eine Million Wähler - also eine Großstadt, eine Mittelstadt mit den umliegenden Landkreisen oder mehrere Landkreise - damit wären alle Regionen der Republik gut durch regionale Abgeordnete vertreten und der Bundestag würde nicht weiter wachsen. 

Redaktion: Klingt gut. Aber auch sehr kompliziert!

Hentschel: So kompliziert ist das gar nicht! Einige unserer Nachbarn machen es uns schon vor: Es ist Zeit, mal über den Tellerrand zu schauen - zum Beispiel nach Dänemark, Irland, Österreich oder in die Schweiz. Dann könnten wir die absurde Debatte über den Bundestag, die diesen am meisten beschädigt, endlich beenden.

Mehr Informationen finden Sie hier.

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