Dialog und Entschiedenheit sind Gebote unserer Zeit - Eine Reflexion von Lukas Beckmann

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Ich habe die Grünen im März 1979 mitgegründet und von Beginn an waren für mich und uns Volksabstimmungen ein zentrales Thema. Schon im Februar 1984, ein knappes Jahr, nachdem wir Grüne in den Bundestag gewählt wurden, diskutierten wir auf einem zweitägigen Kongress in Bonn erstmals einen Gesetzesentwurf für ein dreistufiges Bundesabstimmungsgesetz. Im Mai 1986 nach der Katastrophe von Tschernobyl habe ich den „Volksentscheid gegen Atomanlagen“ mit initiiert.

Wir sammelten eine halbe Million Unterschriften und hatten einen Kellerraum der grünen Bundesgeschäftsstelle in Bonn. Wir überführten die Initiative 1987 in den gemeinnützigen Verein IDEE e.V. (Initiative Demokratie entwickeln) und aus IDEE wurde 1988 „Mehr Demokratie“, die seither in Theorie und Praxis Demokratiegeschichte schreibt.

Dass seit den 90er Jahren in allen Bundesländern die Grundlagen für Bürgerbeteiligungen verbessert und dreistufige Volksentscheide möglich wurden, ist vor allem das Verdienst von Mehr Demokratie und der ostdeutschen Bürgerbewegung. In enger Zusammenarbeit mit führenden Bürgerrechtler*innen hat Mehr Demokratie in Kooperation mit dem „Verfassungskuratorium“ der Heinrich Böll-Stiftung1 die Erarbeitung von Landesverfassungen beraten und unterstützt. Die dort verankerten direktdemokratischen Verfahren hatten direkten Einfluss auf westdeutsche Länder, die nun ebenfalls mehrstufige Volksentscheide in ihre Landesverfassung aufnahmen.

Gleichwohl müssen wir uns heute – nach 35 Jahren Engagement für Volksentscheide auf Bundesebene – unseren Blick schärfen. Die Demokratiebewegung hat lange darauf vertraut, dass alles besser wird, dass liberale Demokratien eine Ewigkeitsklausel haben und nicht sterben können. Wir versäumten, die Instrumente liberaler Demokratien weiter zu entwickeln und ihre konstitutiven Voraussetzungen im Spiegel einer anderen Zeit zu würdigen. Dies wurde – das gehört zur Wahrheit – auch erschwert durch Minderheiten in der Demokratiebewegung, die zum Teil eine erschreckende Distanz zu Parteien und parlamentarischer Demokratie und ihren Institutionen pflegten. Für die breite Mehrheit jedoch war die parlamentarische Demokratie das tragende Fundament, auf das alle weiteren Formen der Beteiligung aufbauen.

Öffentlichkeit und Demokratie

Die (!) Öffentlichkeit gibt es nicht mehr. Sie hat sich atomisiert und in viele Teil-Öffentlichkeiten verflüchtigt. Eine jeweilige identitär ausgerichtete Öffentlichkeit kann man heute mit einfachen und preiswerten Mitteln herstellen. Immer schwerer wird es hingegen, eine meinungs-, urteils- und willensbildende politische Kraft so zu bündeln, dass ihre Entscheidungen breit getragen wird, eine Gesellschaft zusammenführt statt sie noch tiefer zu spalten. Wir müssen darüber sprechen, welch wirkungsmächtigen Einfluss zahllose, grundrechtsfrei agierende digitale Medienplattformen darauf haben, was für wirklich oder fake, wahr oder verschwörend gehalten wird. Immer öfter kommt mir der Bezug auf die Meinungsfreiheit hilflos und beschönigend gefährlich vor, wenn ich höre und lese, was an Verachtendem, Würdelosem, Frauenfeindlichem, Hässlichem gegenüber allem, was als „fremd“ gesehen wird, gesagt und geschrieben werden darf. Auch dass immer mehr demokratisch gewählte Repräsentant:innen aus Angst vor physischen Übergriffen autoritärer und gewaltbereiter Männer öffentliche Räume (oft auf Anraten der Polizei) meiden, ist ein Alarmzeichen.

Die Grundlagen unserer Demokratie sind vier Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkrieges entstanden. In den ersten Jahrzehnten haben Märkte, Zeitungen, Radio und ein paar wenige Fernsehprogramme Themen geprägt, die in weltanschaulicher Vielfalt zum Teil auch mit aller Härte kontrovers diskutiert wurden – allerdings in einer gemeinsamen, viel einfacher zu bewältigenden Öffentlichkeit. Heute sind die Förderung und Stärkung eines unabhängigen Journalismus, der aufklärt, Fakten und dem Gemeinwohl verpflichtet ist und wo Journalist:innen auf ein Einkommen vertrauen kann, von substantieller Bedeutung für die Zukunft unserer Demokratie. Ohne seriöse Informationen keine Demokratie und ohne Demokratie keine Freiheit. Bei unseren Zeitungen etwa haben sich die Zahl der Abonnent:innen und Einnahmen durch Anzeigen in wenigen Jahren halbiert. Wie soll kritischer, seriöser Journalismus sich zukünftig finanzieren?

In den USA gibt es heute bereits über 1.100 Regionen, die über kein Medium mehr verfügen, das über lokale und regionale Ereignisse berichtet. 74 Millionen Amerikaner:innen haben ein Bild hinterlassen von dem, was eine liberal verfasste Demokratie auch kann. Nur knapp 50.000 Stimmen fehlten für eine erneute Trump-Mehrheit unter den Wahlmännern und -frauen. Wir wissen, dass ökonomische und soziale Fakten das Wahlverhalten vieler mit geprägt haben und dennoch bleibt die Frage: Wie weit reichen in einer digital konstruierten Wirklichkeit Überzeugungskraft durch rationale Argumente und Wahrheit? Welche gesellschaftlichen Strukturen und ordnungspolitischen Instrumente erleichtern und belohnen Sachlichkeit, welche weisen Populismus in Schranken? Diese Fragen richten sich gleichwohl nicht nur an direktdemokratische Entscheidungsverfahren, sondern auch an Parteien, die in einer sich wechselseitig beflügelnden digitalen Aufholjagd von Wähler:innen wahrgenommen und unterschieden werden wollen, um gewählt zu werden.

Demokratie und Vertrauen

Die Grundfrage bleibt: Wem kann ich als Bürger:in in einer atomisierten Öffentlichkeit trauen, wie entstehen Misstrauen und Vertrauen? Je länger die Pandemie dauert, desto stärker wird uns bewusst, welche Herausforderungen unseren Gesellschaften durch Klimaerwärmung und Flucht bevorstehen. Können wir Demokratie so ausrichten, dass sie dabei nicht untergeht? Nach einem Jahr Pandemie wird sichtbarer, welche Grenzen Politik hat, wenn ihre Kommunikationsmuster auf Angst aufbauen. Ohne dass Menschen immer wieder ermutigt und gestärkt werden, sich selbst aufzurichten, die eigene Persönlichkeit und dadurch auch Gemeinsinn zu stärken, können liberale Demokratien auf Dauer nicht überleben. Demokratie muss „wehrhaft“ sein, doch eine liberale Demokratie wird nicht allein kraft staatlicher Gewalt überleben. Demokratie ist – anders als andere politische Handlungsfelder – Inhalt und Methode zugleich. Das bedeutet, dass eine demokratische Politik nicht nur an ihren Ergebnissen gemessen werden kann, sondern auch daran, wie glaubwürdig ihre Institutionen und Verfahren Demokratie verkörpern und vertrauensbildend Orientierung bieten. Demokratie muss erlebbar sein. Wir schützen und verteidigen Demokratie am besten dadurch, dass Bürger:innen den Wert von Demokratie aktiv erleben und an ihren Ergebnissen beteiligt sind.

Und der Staat? Er ist nicht nur verpflichtet unsere Demokratie zu verteidigen, sondern er muss sie schützen. Die nicht aufgeklärten Morde durch den NSU und Mordanschläge in Halle, Hanau und Kassel zeigen uns, wie wichtig eine schützende, wehrhafte Demokratie ist und wie schnell sie bröckelt, wenn sich eine falsche Loyalität durchsetzt, die Fehler zu Staatsgeheimnissen erklärt, statt staatliche Versäumnisse, Mitschuld und Mittäterschaft offen zu legen.

Was ist heute der nächste Schritt?

Es ist ein Markenzeichen der Demokratie, mit Ja, Nein oder Enthaltung zu wählen oder über einen bestimmten Sachverhalt abstimmen zu können. Doch wie können wir die Qualität von Entscheidungen und Entscheidungsprozessen verbessern? Was können wir dafür tun, Demokratie, Freiheit, Vielfalt und Respekt in gesellschaftlicher Verantwortung so zu stärken, dass sie das öffentliche Bewusstsein als Haltung und Richtung prägen? Dafür ist das Engagement von Mehr Demokratie für Bürgerräte mit ausgelosten Bürger:innen von grundlegender Bedeutung. Eine Entwicklung, die auch von den Grünen unterstützt wird, deren Grundsatzprogramm vorsieht, dass Bürgerräte nicht nur von Parlamenten, sondern auch aus der Mitte der Gesellschaft initiiert werden können.

Es ist absehbar, dass eine Mehrheit der im Bundestag vertretenen Parteien in der kommenden Wahlperiode ein Gesetz verabschieden wird, das Aufgaben und Kompetenzen von Bürgerräten regelt. Bürgerräte sind bunt, vielfältig und repräsentativ zusammengesetzt und setzen auf Dialog. Aber wir werden als Gesellschaft gezwungen, die eigene ökonomisch und sozial abgeschottete Informations- und Kulturplattform zu verlassen. Bürgerräte stärken die Bedeutung von Verbundenheit bei aller Vielfalt. Bürgerräte bewegen Themen, sie tragen keine Farbe, sie beraten nur und entscheiden nicht. Alles gut bis hierhin, doch es folgt ein Aber: Dass Empfehlungen von Bürgerräten, die vom Parlament eingesetzt werden, unverbindlich bleiben sollen und kein Parlament, kein Ausschuss, keine Fraktion verpflichtet ist, sich damit zu befassen, macht Bürgerräte nach einer anfänglichen Begeisterung in kurzer Zeit zu einer demokratischen Spielwiese.

Wer die Mehrheit und Macht hat, kann dem Rat von Bürgerrät:innen folgen, muss aber nicht – so auch der Beschluss der BündnisGrünen im neuen Grundsatzprogramm. Hier werden wir uns entscheiden müssen: Halten wir als bündnisgrüne Partei Bürger:innen grundsätzlich für mündig oder aber tendenziell eher für verdächtig? Wir sollten uns in einer breit angelegten Demokratiekampagne für ein Gesetz einsetzen, dass der Bevölkerung eine direkte Entscheidung über Beratungsergebnisse von Bürgerräten ermöglicht. Folgt das Parlament einem Rat nicht, so soll die Bevölkerung direkt darüber entscheiden können. Und das Parlament soll ebenso die Möglichkeit haben, einen eigenen Lösungsvorschlag zur direkten Abstimmung zu stellen und für ein Nein zum Vorschlag des Bürgerrats zu werben. Darauf sollte sich die Demokratiebewegung jetzt konzentrieren.

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