Drei Argumente gegen Volksentscheide – und warum sie Unsinn sind…

Die Bürger entscheiden schlecht, das ist meistens so und deshalb sind Volksentscheide keine gute Idee. Das wird in progressiven Kreisen gerne behauptet, wenn die „falschen“ politischen Kräfte sich für direkte Demokratie aussprechen oder die „falschen“ Abstimmungsergebnisse herauskommen. Paul Tiefenbach untersucht, was dran ist an dieser Argumentation.

Die AfD fordert „Volksentscheide nach Schweizer Vorbild auch für Deutschland“. Vielleicht dadurch beeinflusst hat auch die CSU das Thema für sich entdeckt. Sie ließ sogar ihre Mitglieder entscheiden. 69 Prozent der Christsozialen waren für Volksentscheide. Das macht den Volksentscheid für Menschen aus dem links-grünen Spektrum verdächtig. Die Linke ist verunsichert. Kann etwas gut sein, was die politische Rechte fordert?  Micha Brumlik fragte seine Gesprächspartnerin Ulrike Guérot in den „Blättern“: „Sind Sie denn sicher, dass Volksentscheide und Volksbegehren – die ja inzwischen längst auch eine Forderung rechtspopulistischer Parteien sind, ich denke nur an die Schweiz mit ihrem Verbot, Minarette zu bauen – im Endeffekt zu besseren Ergebnissen führen?“ Und diese antwortete, sie sei „dezidiert gegen Referenden. Warum? Weil man mit jedem Referendum den Nationalisten und Populisten eine Bühne bietet….“[1]

Medienmacht und Industriefinanzierung

Das Unbehagen am Volksentscheid drückte am 27.9.17 auch Albrecht Müller, Gründer des bekannten Blogs NachDenkSeiten und ehemals Manager des Wahlkampfs von Willy Brandt „Sind Volksentscheide das Gelbe vom Ei? Bringen sie uns wirklich weiter?“ fragte er sich und antwortete sogleich: „Sehr fraglich“. [2]Anlass für seine Bedenken: Die Schweizer Stimmbürger/innen hatten eine vom Parlament beschlossene und von Müller selbst positiv eingeschätzte Rentenreform im Referendum zu Fall gebracht. Verantwortlich machte Müller die Schweizerische  Volkspartei (SVP): „Die rechtsnationale SVP kann offenbar viel Geld und viel publizistische Macht mobilisieren. Bei uns wäre das in ähnlich gelagerten Fällen einer Abstimmung durchaus auch ähnlich. Der Volksentscheid kann sehr schnell zum Einfallstor der recht bequemen Durchsetzung der Interessen publizistisch mächtiger und reicher Gruppen und Personen werden.“

Es finden sich hier drei Unterstellungen, die typisch sind für die Kritik an Volksentscheiden. Nämlich erstens, dass die Bürger/innen schlecht entschieden haben. Hier ist es die Rentenreform. Andere oft gehörte Beispiele dafür sind der Brexit, der Hamburger Volksentscheid gegen eine rot-grüne Schulreform oder die Ablehnung des Assoziierungsabkommens mit der Ukraine durch die Niederländer/innen.

Zweitens wird impliziert, dass dieser Fall die Regel ist, dass also meistens schlecht abgestimmt werde, und drittens, dass dies einem systematischen Mangel des Verfahrens geschuldet sei.  Den Mangel des Verfahrens sieht Müller zum Beispiel in ungleich verteilten materiellen Ressourcen und der Medienmacht der Rechtspopulist/innen.

Was die ersten beiden Punkte angeht, ist das weitgehend Ansichtssache. Was ist „schlecht“? Wer eine Vertiefung der europäischen Union befürwortet, fand es natürlich schrecklich, dass die Bürger/innen Frankreichs und der Niederlande dem Entwurf für eine europäische Verfassung 2005 eine Absage erteilten. Doch kritisierte auch die Friedensbewegung, sonst eher pro-europäisch eingestellt, den Verfassungsentwurf wegen der darin enthaltenen Aufrüstungsverpflichtung. Und auch im Falle der Schweizer Rentenreform sollte Albrecht Müller bald erkennen, dass seine Kritik am Volksentscheid voreilig war. NachDenkSeiten-Leser/innen aus der Schweiz klärten ihn auf, dass die gescheiterte Rentenreform keineswegs nur positiv zu bewerten sei. Sie hätte zum Beispiel auch eine Anhebung des Rentenalters bedeutet.

Nutzen Volksabstimmungen den Nationalisten?

Der Brexit wird gerne als Beispiel genannt für die Manipulierbarkeit der Menschen und möglicherweise dachte Ulrike Guérot daran, als sie sagte, der Volksentscheid würde Nationalisten eine Bühne bieten. Ganz im Gegenteil: In 19 Abstimmungen über EU-Beitritte stimmten die Bürger/innen 15 Mal pro EU. Ein Beitritt wurde nur in der Schweiz, Grönland und zweimal in Norwegen abgelehnt. 70 Prozent aller Abstimmungen zu EU-Themen gehen Pro-EU aus. Von einer nationalistischen Tendenz bei Volksentscheiden zu EU-Fragen kann also keine Rede sein.[3]

Weitere Beispiele für progressive Volksentscheide gefällig? 62 Prozent der überwiegend katholischen Ir/innen bestätigten 2015 im Volksentscheid die Einführung der “Ehe für Alle“. Die Mehrheit der Hamburger/innen stimmte im Volksentscheid gegen Privatisierungen im Gesundheitswesen und für den Rückkauf der Energienetze. 2013 votierten die meisten Schweizer/innen „gegen die Abzockerei“ und für eine Begrenzung der Vorstandsbezüge in Aktiengesellschaften. Die Frage, ob Volksentscheide überwiegend links oder rechts ausgehen, ist allerdings ebenso sinnvoll wie die Frage, ob bei Wahlen überwiegend linke oder rechte Parteien gewinnen. Es hängt eben vom politischen Bewusstsein ab und bei einer überwiegend konservativ eingestellten Bevölkerung werden auch Volksentscheide eher rechte Ergebnisse bringen. Es ist nicht dem Spiegel anzulasten, wenn das Gesicht, das in ihn hineinschaut, nicht besonders hübsch ist.

Es sei denn, der Spiegel ist ein Zerrspiegel. Damit kommen wir zum dritten Punkt der Kritik Müllers, dem übermäßigen Geldeinsatz der SVP und der Medienmacht, die zusammen die Rentenreform im Referendum zum Scheitern gebracht hätten. Eine bloße Vermutung, überprüfen lässt sie sich nicht. Die Schweiz kennt kein Parteiengesetz und Parteien sind somit nicht zur Offenlegung ihrer Finanzen verpflichtet. Gleiches gilt für Volksentscheidskampagnen. Bislang haben die Schweizer/innen in der Politikfinanzierung kein großes Problem gesehen.

In den USA dagegen ist der übermäßige Geldeinsatz bei Volksentscheiden – wie auch bei Wahlen – ein wichtiges Thema und Gegenstand zahlreicher Untersuchungen. Sie zeigen, dass massive finanzielle Unterstützung einer Gegenkampagne den Sieg so mancher Basisinitiative im Volksentscheid verhindert hat. Selbst einen Volksentscheid zu gewinnen, in dem man zum Beispiel eine industriefreundliche Volksinitiative massiv sponsert, gelingt dagegen fast nie. Denn die Initiativen müssen bereits vor dem Volksentscheid ihre Finanziers offenlegen. Und die Unterstützung durch am Erfolg wirtschaftlich interessierte Großfinanziers wirkt auf die Bürger/innen abschreckend.[4]

80 Prozent der teilweise enormen Summen, die Volksentscheidskampagnen in den USA ausgeben, fließen in die bezahlte kommerzielle Fernsehwerbung. Bezahlte politische Werbung im Fernsehen ist in der Schweiz, wie auch in Deutschland, verboten. Denn sie begünstigt die finanziell besser ausgestattete Seite enorm. Sinnvoll ist dagegen, staatlicherseits für eine ausgewogene Berichterstattung zu sorgen. Kostenlose Sendezeit für Pro- und Kontraseite zumindest in den öffentlich-rechtlichen Sendern vor einem Volksentscheid, vergleichbar mit der Wahlwerbung, ist eine Möglichkeit. So etwas gibt es in Portugal. 

Eine andere Möglichkeit für ausgewogene Information sind Abstimmungshefte. Sowohl in der Schweiz als auch in USA wird den Wähler/innen vor der Abstimmung eine von einer neutralen Stelle gestaltete Informationsbroschüre zugeschickt. Auch einige deutsche Bundesländer tun das inzwischen. Das Thema des Volksentscheids wird einmal kurz und knapp und dann zur vertiefenden Information ausführlich dargestellt.  Pro- und Contra können auf jeweils einer Seite ihre Positionen erläutern. In Kalifornien können beide sogar noch einmal auf den Text des anderen antworten. Befragungen ergeben, dass ein großer Teil der Abstimmenden das Heft auch nutzt.[5] Wer an der Abstimmung teilnimmt, informiert sich vorher.

Die Erfahrungen in der Schweiz zeigen übrigens auch, dass auch die Zeitungen vor Volksentscheiden keineswegs einseitig berichten. Die Neue Züricher Zeitung lässt sogar regelmäßig vor Volksentscheiden beide Seiten im Originalton ihre Standpunkte veröffentlichen und stellt dann in einem dritten Artikel die Einschätzung der Redaktion dazu dar.

 


[1] Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2017, S. 66.

[2] Abrufbar unter www.nachdenkseiten.de

[3] Michael Efler, Volksentscheide zu EU-Fragen. 10 Fakten und Thesen, https://www.mehr-demokratie.de/fileadmin/pdf/2016-06-20_10_Thesen_EU-Volksentscheide.pdf,  Zugriff 10.10.17.

[4] Vgl. zum Beispiel Hermann K. Heußner, Direkte Demokratie in den US-Gliedstaaten in den Jahren 2010 und 2011- Ein Überblick, In: Lars Feld u.a (Hg)., Jahrbuch für Direkte Demokratie 2012, Baden-Baden 2013.

[5] Zum Beispiel Thomas E. Cronin, Direct Democracy, Cambridge, Massachusetts 1999, S 80ff.

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