Interview mit Andreas Gross

Andreas Gross spricht im Europäischen Parlament über direkte Demokratie

Am 21. August feierte Andreas Gross seinen 60. Geburtstag. Wie kaum ein zweiter ist er Vordenker und Impulsgeber der neuen Bewegungen für direkte Demokratie. Democracy International führte ein Interview mit ihm.

Andreas Gross hat den Begriff der transnationalen Demokratie geprägt und beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Ausbildung eines genuin europäischen Verfassungsstaates, in dem das Konzept der modernen direkten Demokratie eine zentrale Rolle spielt. Selbst Schweizer, seit vielen Jahren Abgeordneter des helvetischen Nationalrats und mit verschiedenen Aufgaben im Europarat betraut, steht er seit über 30 Jahren zivilgesellschaftlichen Bestrebungen für mehr direkte Demokratie - u.a. dem Verein Mehr Demokratie in Deutschland - zur Seite. Das Goethe’sche Wort „das was bedenke, mehr bedenke wie“ findet Andreas Gross für die direkte Demokratie besonders wichtig. Er lehrt auch seit über 20 Jahren an verschiedenen deutschen Unis über die direkte Demokratie vor allem im globalen Vergleich, lange Jahre an der Uni Marburg, um die Wende des letzten Jahrzehntes in Jena und seit dem vergangenen Frühjahr in Hamburg.

Mehr Demokratie und <link http: www.democracy-international.org external-link-new-window>Democracy International gratulieren Andreas Gross ganz herzlich zum Geburtstag! Das folgende Interview führte Daniel Schily für Democracy International.

Democracy International: Warum brauchen wir die direkte Demokratie?

Andreas Gross: Aus sehr vielen verschiedenen Gründen. Erstens umfasst die Demokratie viel mehr als das Wählen und die Delegation der eigenen Macht an das Parlament. Wer von einer Entscheidung betroffen ist, sollte in einer Demokratie direkt in die Entscheidungsfindung miteinbezogen werden. Frei ist, wer mit anderen auf seine Lebensgrundlagen einwirken kann und nicht der, der jene auswählen kann, die über ihn herrschen und seine Lebensumstände gestalten.

Zweitens können die meisten Bürgerinnen und Bürger auch politisch viel mehr als bloß zwischen einem beschränkten Angebot (aus)wählen; beschränkt sich die Demokratie aber auf das Wählen, so liegt dieses große bürgergesellschaftliche Know-how brach. Die institutionelle Ausstattung des Staates ist also nicht in der Lage, die gesellschaftlichen Potenziale auszuschöpfen. Entsprechend frustriert sind viele interessierte Menschen, entsprechend beschränkt ist die öffentliche politische Debatte und entsprechend trist sind die politischen Realitäten.

Drittens lernt am meisten, wer an den politischen Entscheidungen partizipiert. Und wir brauchen heute nichts mehr als lernende Gesellschaften, die es verstehen, sich so weiterzuentwickeln, dass sich viele wieder wohl fühlen.

Viertens erlaubt die direkte Demokratie den einzelnen viel mehr, mit anderen zusammen ihre positive Gestaltungsmacht zu entfalten; das schafft Selbstverstrauen und Zuversicht, die wir alle brauchen, um europäisch und global die Machtverhältnisse so zu demokratisieren, dass auch auf diesen transnationalen Ebenen die Demokratie eingerichtet werden kann. Damit wir dem substanziellen Versprechen der Demokratie, die faire Verteilung der Lebenschancen unter allen, etwas gerechter werden können.

Was zeichnet ein gutes direktdemokratisches Verfahren aus?

Wohl die Fähigkeit, immer wieder sich zeigende Schwächen und Unzulänglichkeiten erkennen und beheben zu können. Ein für alle Mal perfektes Verfahren wird es nie geben; doch wir können die Unzulänglichkeiten immer weiter aufheben, so dass wir uns dem guten Verfahren annähern können, in dem Wissen, das Perfekte nie zu erreichen.

Wichtig und zentral sind selbstverständlich die Erweiterungen der repräsentativen Demokratie um die Verfahren des Gesetzes- und Verfassungsreferendums, ebenso wie der Gesetzes- und Verfassungsinitiative, die es den Bürgerinnen und Bürgern erlauben, die Delegation ihrer Souveränität an das Parlament, wenn von ihnen gewünscht, punktuell aufzuheben und die Sache wieder in ihre eigenen Hände zurückzunehmen und auch die Entwicklung der rechtlichen Ordnung selber voranbringen zu können. Dabei müssen vor allem die Schnittstellen zwischen der direkten und der indirekten Demokratie ebenso wie jene zwischen den Menschenrechten und der direkten Demokratie sowie die Qualität der öffentlichen Debatte und die Fairness der vorhandenen Ressourcen beachtet werden. Schließlich gilt es, die Einstiegshürden für Volksbegehren und Referenden so festzulegen, dass sie auch von kleinen Gruppen wahrgenommen werden können und die direkte Demokratie nicht zu einem Privileg gut organisierter, finanziell überdurchschnittlich ausgestatteter Organisationen wird, die sich bereits im Parlament Gehör verschaffen können.

Rechtsstaat und Demokratie – was sagen sie zu diesem Henne-Ei-Problem? Können/sollen auch direktdemokratische Entscheidungen des Volkes durch den Rechtsstaat in die Schranken gewiesen werden?

Selbstverständlich. Das ist das, was ich mit der Schnittstelle zwischen den Menschenrechten und der direkten Demokratie gemeint habe. Wir wollen schließlich nicht, dass die Direkte Demokratie zur Tyrannei der Mehrheit entartet. Grund- und Minderheitsrechte sind nicht abhängig von der Zustimmung durch die Mehrheit. Es gibt keine Demokratie ohne deren demokratisch zustande gekommene Einhegung durch den Rechtsstaat. Es gibt aber auch kein Recht und auch keinen Rechtsstaat ohne Demokratie – das heißt: es gilt nur als Recht, was von einer Mehrheit in einer Abstimmung, meist in einer Verfassungsabstimmung, ins Recht gesetzt worden ist. Dessen Auslegung im Streitfall ist dann wiederum Sache der Gerichte, nicht die Angelegenheit einer Mehrheitsabstimmung. Erinnern sie sich auch an die französische Menschenrechtserklärung von 1789, wonach derjenige frei ist, der jenen Gesetzen sich unterzieht, die er zusammen mit allen anderen selber mitgestaltet, beziehungsweise denen die Mehrheit seinesgleichen zugestimmt hat.

1995 haben Sie das Buch „transnationale Demokratie – Impulse für ein demokratisch verfasstes Europa“ veröffentlicht, heute redet ganz Europa über eine Neugründung, aber keiner traut sich den ersten Schritt zu gehen. Was sollten die Leitplanken einer neuen europäischen Verfasstheit darstellen?

Europa, die EU, braucht in Form einer mit einem gesamteuropäischen (doppelten) Referendum verabschiedeten Verfassung ein stärkeres, demokratisch verankertes Fundament als es die heutigen Verträge zu schaffen vermögen. Deren governmental geprägte Tragkraft hat sich erschöpft, ebenso wie deren Integrationskraft. Nur so können auch die Grundlagen für eine gemeinsame Fiskal-, Wirtschafts-, Haushalts-, Steuer- und Finanzausgleichspolitik geschaffen werden, ohne die eine gemeinsame Währung nicht zum Nutzen aller wirken kann.

Die Demokratie braucht aber auch Europa, wenn sie die Macht zurückgewinnen will, um transnationalen Märkten im Interesse der weniger begüterten Menschen und der verletzlichen Natur Grenzen zu setzen; das kann heute kein Staat allein mehr. Deshalb erodiert derzeit die Macht des Staates und damit die Gestaltungsmacht der Demokratie. Wer sich mit dieser Erosion nicht abfinden will, kommt um die Transnationalisierung der Demokratie nicht herum. Wobei Europa erst ein Zwischenschritt und ein Baustein sein wird auf dem Weg zu einer globalen demokratischen Struktur.

Wichtig ist mir derzeit das Design eines mehrjährigen, demokratischen europäischen Verfassungsgebungsprozesses durch eine direkt gewählte, verfassungsgebende Versammlung Europas. Er muss partizipativ ausgestaltet und verankert sein und durch ein doppeltes Referendum aller interessierten Europäer und ihrer Staaten abgeschlossen werden. Entsprechend verständlich müssen Prozess und Ergebnis ausgestaltet werden.

Interessant ist die Frage, wie ein solcher Prozess ausgelöst werden kann und wie sein Design festgelegt wird. Das gilt es über das Europaparlament und/oder via der Europäischen Bürgerinitiative in den Verträgen zu verankern.

Zum Inhalt der kommenden und so notwendigen föderalistischen europäischen Verfassung möchte ich weiter noch nichts sagen. Meiner Meinung nach dürfte sie aber einige Zuständigkeiten wieder an die Staaten und Regionen zurückgeben, die unterschiedlichen Zuständigkeiten besser voneinander abgrenzen. Sie muss zudem knapp gehalten sein und der eigenen Weiterentwicklung durch die ihr unterstehenden, beziehungsweise den sie tragenden Bürgerinnen und Bürger gegenüber offen sein.

Wie sollte Ihrer Meinung nach ein europäisches Referendum ablaufen? Wie sollte u.a. mit den Voten der einzelnen Mitgliedsnationen umgegangen werden?

Es muss ausgehen von etwa zwei Prozent der wahlberechtigten Europäerinnen und Europäer, die sich innerhalb eines Jahres und mit einer ausreichenden Verteilung in drei Vierteln aller EU-Mitgliedstaaten für das europäische Referendum über eine bestimmte europäische Norm, deren Veränderung oder eine neue Norm, entsprechend präzise formuliert, ausgesprochen haben. Darauf wird dieser Vorschlag von allen europäischen Institutionen während mindestens zwölf Monaten ausführlich diskutiert und eventuell um eine Ergänzung erweitert. Für die eigentliche Abstimmungskampagne werden sechs Monate festgelegt, in denen in allen EU-Mitgliedstaaten den verschiedenen Ja- oder Nein-Gruppierungen Mittel zur Öffentlichkeitsarbeit zur Verfügung gestellt werden, so dass die verschiedenen Standpunkte faire Chancen erhalten, sich Gehör zu verschaffen. Wirksam wird die neue Norm, wenn ihr im Referendum, zu dem sich alle stimmberechtigten Europäerinnen und Europäer binnen drei Wochen direkt, per Briefpost oder elektronisch äußern können, eine Mehrheit der teilnehmenden Europäer und eine Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten zugestimmt haben!

Viktor Hugo hat einmal angedeutet: „Schweiz! Wenn sich endlich Europa aus eignen Kräften selber auf den Weg macht, wirst du, strenge Ahnfrau, die junge Menschheit unter ihrem blumengeschmückten Hut auf dich zueilen sehen.“ Wann dürfen wir denn die Schweiz auf Europa zueilen sehen?

Das wird noch einige Zeit dauern. Ich arbeite wie viele andere auch deshalb seit über 20 Jahren an der Demokratisierung und der Föderalisierung der EU, weil ich mir bewusst bin, dass je besser und je schneller uns dies gelingt, je eher wir auch die Chance haben, eine Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer und eine Mehrheit der Schweizer Kantone vom Sinn und der Notwendigkeit der Mitgliedschaft der Schweiz in der EU überzeugen zu können.

Dabei bin ich den Europäern sehr dankbar, dass sie mich diese Arbeit auch als Schweizer leisten lassen und meine Ideen aufnehmen und weniger als die Schweizer dies tun würden, deren Wert an der geografischen Herkunft ihres Absenders messen. Mit anderen Worten: Die Europäer sind für gute Ideen und Anstöße von außerhalb der EU offener und empfänglicher als die Schweizer für solche von außerhalb der Schweiz und dies ist gut so.

Doch könnten wir alle viel mehr voneinander lernen. So wäre es beispielsweise in jeder Beziehung interessant und hilfreich, wenn wir uns fragen würden, welche Einrichtungen und Leistungen in einem Land in die europäische Verfassung einfließen sollten. So könnten sich dann später einmal alle mit ihr gut identifizieren, weil sie ihr Bestes in ihr wiederfinden könnten. Aus der Schweiz wäre dies ganz gewiss die direkte Demokratie und deren Zwillingsschwester, der Föderalismus.

Teilen:
nach oben