Russland: Einwöchige Volksabstimmung zu Verfassungsänderungen

UPDATE: In Russland ist das Referendum über die größte Verfassungsänderung der russischen Geschichte geendet. Die Abstimmung wurde wegen der Corona-Pandemie auf sieben Tage gestreckt. Bis zum 1. Juli stimmten etwa 78 Prozent für das Referendum bei einer Wahlbeteiligung von knapp 68 Prozent. Präsident Wladimir Putin könnte sich so eine enorme Machterweiterung sichern und bis 2036 Präsident bleiben. Indes werfen Oppositionelle und Wahlbeobachter*innen der Regierung Manipulation der Wahlergebnisse vor.

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Unser Mitarbeiter Frank Rehmet hat sich das Referendum genau angeschaut und im WRD dazu ein Interview gegeben.
Jetzt das Interview nachhören!

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Update 9.7.2020, 18:10 Uhr: Die Russische Regierung steht unter dem Verdacht des Wahlbetrugs

Bereits am 2. Juli wird offiziell, dass Russlands Präsident Wladimir Putin sich in dem nicht bindenden Referendum den notwendigen Rückhalt für seine Verfassungsreform und damit eine mögliche Verlängerung seiner Präsidentschaft bis 2036 sichern konnte. Nach offiziellen Angaben der Regierung gaben knapp 58 Millionen Russinnen und Russen ihre Stimme ab. Etwa 78 Prozent stimmten für das Referendum. Die Wahlbeteiligung von knapp 68 Prozent wurde einerseits durch die einwöchige Möglichkeit zur Abstimmung, teils aber auch mit Manipulation erreicht, berichten Experten und Wahlbeobachter.

Verdacht auf Wahlmanipulation 

Eine Vielzahl an berichteten Vorfällen deuten darauf hin, dass das Wahlverhalten der russischen Bevölkerung stark seitens der Regierung beeinflusst wurde. So nahm die Polizei auf dem Roten Platz mehrere Personen fest, die mit ihren Körpern auf dem Pflaster die Zahl 2036 bildeten und sich damit zur Opposition bekannten. Im Moskauer Stadtbezirk Lefortowo kam es zu einem Skandal, weil eine Familie, die abstimmen wollte, feststellen musste, dass bereits für sie abgestimmt wurde. Auch sollen Firmenchefs ihre Mitarbeitenden zur Abstimmung gezwungen haben. Lehrer*innen und Ärzt*innen, Angestellte der Metro, Bauarbeiter*innen und Mitarbeitende großer staatlicher Konzerne wurden zur Stimmabgabe gedrängt und mussten teilweise Berichten zufolge in einigen Fällen Rechenschaft darüber ablegen.

Nicht nur Oppositionelle kritisierten, dass eine adäquate Wahlbeobachtung u.a. aufgrund der zeitlichen Streckung der Abstimmung unmöglich war. Zudem konnten Bürger online oder an einem beliebigen Ort wählen, wenn sie sich vorher an ihrer Meldestelle abgemeldet hatten. Die unabhängige Wahlbeobachtungsgruppe Golos berichtete von hunderten Beschwerden über Verstöße gegen die Wahlfreiheit. Dem widersprach Wahlkommissionschefin Pamfilowa. Im gesamten Wahlprozess seien "keine ernsthaften Verstöße" sichtbar geworden.

Verdacht auf Ergebnismanipulation

Während laut offiziellen Teilergebnissen der zentralen Wahlkommission 77,9 Prozent der Stimmberechtigten für die von Präsident Wladimir Putin vorgeschlagene Verfassungsreform gestimmt hätten, hat laut einem Artikel der FAZ ein Wahlfachmann errechnet, dass die Zustimmung bei rund 65 Prozent gelegen habe. Der Anteil der Nein-Stimmen habe statt knapp 22 Prozent 35 Prozent betragen und die Beteiligung statt 68 nur 44 Prozent.

Nach Veröffentlichung der Wahlergebnisse gaben die russischen Behörden zudem die offiziellen Daten aus den Wahllokalen heraus. Nach grafischer Aufbereitung sind sogenannte "Integer Anomalies", also ungewöhnliche Häufungen in den Prozentpunkten bei ganzen Zahlen – häufig in Fünferschritten, zu erkennen. In auffällig vielen Wahllokale, betrug die Zustimmung 75, 80, 85, 90 oder 95 Prozent, bei einer gleichzeitig hohen Wahlbeteiligung von 75, 80, 85, 90 oder 95 Prozent. Durch diese Häufung entsteht in der grafischen Darstellung ein Muster an Vierecken anstelle einer unregelmäßigen Streuung. Da ein Zufall mathematisch auszuschließen ist und keine logischen Abstimmungsverhaltensweisen herangezogen werden können, ist Manipulation wahrscheinlich.

Solche Ausschläge nach oben sind in zahlreichen Regionen zu beobachten. Zudem ist auffällig: Je höher die Zustimmung für Putin war, desto stärker näherte sich der Prozentsatz einer geraden Zahl an. Je höher die Zustimmung für Putin war, desto kleiner war auch das Wahllokal. Dieser Umstand könnte sonst zudem mit dem Stadt-Land-Gefälle zu erklären sein.

Laut der österreichischen Tageszeitung DER STANDARD handle es sich bei dem Referendum um keinen Einzelfall. In den vergangenen Jahren sei ein klarer Trend hin zu solchen statistisch unwahrscheinlichen Zahlen zu beobachten. So wuchs die Zahl der Wahllokale mit auffällig vielen runden Prozentsummen seit Putins Machtübernahme im Jahr 2000 von wenigen Dutzend auf über 3.000 beim aktuellen Referendum.

Der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny verurteilte das Referendum indes: "Die 'Ergebnisse', die sie gerade verkündet haben, sind gefälscht und eine riesige Lüge", erklärte Nawalny am Mittwoch kurz nach der Bekanntgabe von offiziellen Teilergebnissen. Die Ergebnisse hätten "nichts mit der Meinung der russischen Bürger zu tun". Er hatte zum Boykott des Referendums aufgerufen.

 

Weitere Informationen zum Vorwurf der Ergebnismanipulation finden Sie im Artikel von DER STANDARD.

 

Version vom 25.6.2020:

Bereits im Januar dieses Jahres hatte Präsident Putin in seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation ein Referendum zu einigen Verfassungsänderungen angekündigt. "Ich halte eine Abstimmung der Bürger über ein Gesamtpaket vorgeschlagener Änderungen an der Landesverfassung für notwendig", sagte Putin damals vor den Parlamentariern und der politischen Elite des Landes.

Nach der Rede hatte die russische Regierung unter Ministerpräsident Medwedjew bereits ihren Rücktritt angekündigt. Medwedjew wurde daraufhin zum stellvertretenden Chef des russischen Sicherheitsrates ernannt. Eigenen Aussagen zufolge hätte er damit Putin die Möglichkeit geben wollen, die nötigen Veränderungen im Land anzustoßen. Da Putin lange eine klare Aussage zu seiner eigenen politischen Zukunft vermied und sich im Dezember 2019 noch offen für eine Verfassungsreform gezeigt hatte, die die Zahl der Amtszeiten des Präsidenten stärker begrenzen würde, spekulierten Beobachterinnen und Beobachter zwischenzeitlich, dass Putin nach Ende seiner Amtszeit 2024 erneut ins Amt des Ministerpräsidenten wechseln und daher dessen Vollmachten stärken wollte. Seit dem 10. März ist jedoch klar, dass Putin noch lange nicht plant, sein Amt abzugeben. Denn in der überarbeiteten Fassung werden die bisherigen Amtszeiten annulliert, so dass Putin im Jahr 2024 erneut kandidieren könnte.

In der staatlichen Werbung für das Referendum wurde währenddessen vor allem damit geworben, dass in der überarbeiteten Verfassung soziale Garantien wie eine Renten-Indexierung und konservative Werte wie die Festschreibung der Ehe als Bund zwischen Mann und Frau verankert würden. In seiner Rede zur Lage der Nation hatte Putin zudem den Bevölkerungsrückgang thematisiert. Russland stehe derzeit vor den Folgen der Wirtschaftskrise nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, die zu einem starken Geburtenrückgang geführt habe, sagte Putin und versprach Familien größere Beihilfen, wenn diese mehr Kinder bekommen würden. In den Tagen vor der Öffnung der Wahllokale sprach das staatsnahe Fernsehen zuletzt auffällig häufig von Stabilität und einem starken Staat mit hoher Führungsqualität.

Insgesamt sind dies 14 Hauptpunkte zu sehr unterschiedlichen Themen. Die Bürger und Bürgerinnen können diese jedoch nur im Paket annehmen oder ablehnen.

Kritik an Putins Plänen

Umstritten ist insbesondere die Annullierung bisheriger Amtszeiten. Nach aktueller Rechtslage dürfte der 67-Jährige mit Ablauf seiner derzeitigen Amtszeit im Jahr 2024 nicht erneut antreten. Die Änderungen sollen es ihm dagegen erlauben, für zwei weitere Amtszeiten zu kandidieren. Mit Inkrafttreten der neuen Verfassung würden Putins bisherige Amtszeiten schlicht annulliert. Er könnte dann bis 2036 Präsident bleiben. Im Eiltempo hatten im März das Parlament und auch das Verfassungsgericht dem zugestimmt.

Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin hält dies für wichtige Änderungen. Schließlich sei Russland ein Land, das ständig vor neuen Herausforderungen stehe: "Und in diesem Land hätten wir dann einen Präsidenten, der sich nicht mehr zu Wahl stellen darf. Das bedeutet politische Ungewissheit, Instabilität.", fügte er hinzu. Die Opposition hält dies für kein angemessenes Argument. Vielmehr sei Putins Sonderregelung in der Verfassung keine Verfassungsreform, sondern ein „Verfassungsumsturz”. Gegnerinnen und Gegner sprechen von einem Staatsstreich und kritisieren, dass zugleich Rentenanpassungen in Aussicht gestellt wurden. Damit wolle der Kreml die Wählerinnen und Wähler für eine Zustimmung ködern. Außerdem warnen sie davor, die Bevölkerung bei einer solchen Volksabstimmung sinnlos der Gefahr einer Virusinfizierung auszusetzen.

Abstimmungsbeteiligung soll durch „Millionen Preise“ trotz Corona höher ausfallen

Damit möglichst viele an der Abstimmung teilnehmen, hat die Stadt Moskau mit der Moskauer Industrie- und Handelskammer außerdem die Idee des Geschenke-Programms „Millionen Preise“ durchgesetzt. So sollen zwei Millionen Preise unter den Moskauer Bürgerinnen und Bürgern verlost werden. Bei Abstimmung vor Ort, erhalten die Wählenden ein Los mit einem Code, den sie per SMS einer Nummer zuschicken sollen. Wenn online gewählt wird, nimmt man automatisch an der „Lotterie“ teil. Insgesamt verlost die Regierung zwei Millionen Preise, die gegen Geschenke beispielsweise in Geschäften oder Restaurants eingetauscht werden können. Der bekannte Oppositionspolitiker Alexej Nawalny nennt dieses Programm ein „Verbrechen“. Auf Twitter schreibt er: „Haushaltsgelder werden illegal verwendet, um Menschen zu täuschen. Dieses Geld benötigen Krankenhäuser und Schulen.“

Putin verspricht, das Ergebnis der Volksabstimmung zu respektieren

Sobald die Ergebnisse des Referendums vorliegen, wird klar sein, ob Putin auch nach 2024 Präsident bleiben kann. Zuletzt kündigte er an, die geänderte Verfassung nur dann in Kraft zu setzen, wenn sich eine Mehrheit dafür ausspreche: "Es ist allein der Wille der Menschen, der von grundlegender Bedeutung ist, um einen verlässlichen Rahmen zu schaffen für eine souveräne, dynamische und langfristige Entwicklung des Landes in den kommenden Jahren und Jahrzehnten."

 

Weitere Informationen zu den bisherigen Volksabstimmungen in Russland finden Sie hier.

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