Zum Tag der Deutschen Einheit

Ost und West, West und Ost. Wieder vereint, vereinigt. Deutsche Einheit. Die Menschen im Osten wollten dazugehören, den Anschluss finden an den Westen, an Einigkeit und Recht und Freiheit – als des Glückes Unterpfand. So heißt es in der Nationalhymne, deren Text ich immer noch nachlesen muss, auswendig kenne ich nur den mit den Ruinen. Für die Menschen im Westen wurde das Land ein wenig größer, sonst hat sich nicht viel geändert. Für uns im Osten dagegen hat sich alles geändert, alles und für alle.

Geht es um die Geschichte dieses Deutschlands, klopfen in Festreden die Repräsentanten unserem Land auf die Schulter – und sich selbst damit auch – und reden von den mehr als 70 Jahren, in denen sich die Demokratie bewährt habe. Und immer denke ich: Da komme ich nicht vor, bei mir sind es erst gut 30 Jahre Demokratie. Da wird vereinheitlicht ohne Sinn und Verständnis, und schon ist ein Teil des Landes mit seiner Geschichte ausgeblendet.

Die Mütter und Väter des Grundgesetzes hatten einen Plan, für den Fall, dass Ost und West wieder zusammenkommen. Es sollte gemeinsam an einer gesamtdeutschen Verfassung gearbeitet werden. Diese sollte dann, wie es sich gehört für Verfassungen, dem ganzen, wiedervereinigten Volk zur Abstimmung vorgelegt werden. So war es ausgedacht, so war es versprochen, so wurden wir enttäuscht. Es wäre der Edelstein der Deutschen Einheit gewesen. Die Ossis hätten den Verfassungsentwurf vom Zentralen Runden Tisch der DDR, der den Geist des Herbstes ’89 atmet, die Bürgerrechte klarer aufblättert als das Grundgesetz, mitbringen können. Aber noch wichtiger: Wir hätten uns anders wahrgenommen, aufmerksamer vermutlich, wir hätten gestritten und hätten unsere Geschichten gehört. Ich wäre vermutlich ein, zwei Jahrzehnte eher heimisch geworden in diesem neuen Heimatland.

Hätten, hätten … wir haben allerdings auch. Dieser Tage ist die 400. Volksinitiative auf den Weg gebracht worden, also der Einstieg auf dem Weg zu einem Volksentscheid auf Landesebene. Und das, liebe Bürgerinnen und Bürger, hat mit der friedlichen Revolution zu tun. Die direkte Demokratie war bis 1989 in den gebrauchten Ländern noch ein Stiefkind. Aber in den neuen Ländern wurde sie ganz selbstverständlich mit den Kommunal- und Landesverfassungen eingeführt. Das hat der direkten Demokratie in ganz Deutschland Auftrieb gegeben. Heute können in ausnahmslos allen Kommunen Deutschlands Bürgerbegehren und in allen Bundesländern Volksbegehren gestartet werden. Nur auf Bundesebene fehlt die direkte Demokratie noch: Das wäre ein wirkliches Ost-West-Projekt, sie einzuführen. Wie meinte doch der Württemberger, äh Thüringer Friedrich Schiller: „Das Werk ist angefangen, nicht vollendet. Jetzt ist uns Mut und feste Eintracht not. Bildet, ihr könnt es, freier zu Menschen euch aus.“

Dieser Text enthält einen Auszug aus Ralf-Uwe Becks Buch „Augenblick nochmal. Neue Zwei-Minuten-Texte, die den Alltag durchkreuzen“, ISBN 978-3-86160-589-8  und kann bestellt werden.
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Am 5. Oktober findet unser Austauschformat „Sprechen & Zuhören“ zum Thema „Deutsche Einheit – deutsche Teilung“ statt.
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Stichwort 400. Volksinitiative: Eine Liste aller laufenden Volksbegehren und Anträge auf Volksbegehren gibt es auf unserer Website.
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