Vision und Arbeitsfeld
Im Arbeitsfeld „Demokratische Kultur“ beschäftigen wir uns mit den inneren Voraussetzungen einer lebendigen Demokratie. Unsere demokratischen Strukturen sind darauf angelegt, die Würde des Menschen zu schützen und Freiheit zu gewährleisten. Doch der staatliche Rahmen allein schafft noch keine lebendige, erlebbare Demokratie: Eine demokratische Kultur lässt sich nicht regeln oder verordnen – sie muss entwickelt, eingeübt und praktiziert werden. Aus dieser Dynamik heraus lassen sich dann auch die Strukturen weiterentwickeln.
Eine Vision von Mehr Demokratie
Wir wünschen uns eine zukunftsfähige, sich weiterentwickelnde und vertiefende Demokratie. Eine Demokratie, in der alle Erfahrungen wichtig sind und die Erfahrungen aller Anerkennung finden. Eine Demokratie, mit der wir uns verbunden fühlen, in der wir einander vertrauen, und in der wir selbstbewusst und kreativ Einfluss nehmen können. Eine Demokratie, die Vielfalt gewinnbringend integriert und in der kollektive Intelligenz zu umfassenden Lösungen führt.
Um das zu schaffen, reicht es nicht mehr aus, „nur“ auf Strukturen, Gesetze und Institutionen zu verbessern. Wir müssen auch Kulturkompetenzen entwickeln, die unsere Unzulänglichkeiten, Blockaden und geschichtliche Vergangenheit berücksichtigen. Es kommt nicht nur darauf an, dass wir uns für die Weiterentwicklung demokratischer Verfahren einsetzen; wir möchten uns auch um eine neue Kultur in demokratischen Prozessen kümmern.
So könnte die demokratische Zukunft aussehen, die wir uns vorstellen:
- Im ganzen Land gibt es eine lebendige Zivilgesellschaft, die sich wie bei »Sprechen & Zuhören« in Dialog- und Resonanzräumen zusammenfindet. Dort werden die politischen Entscheidungen der Zukunft vorbereitet. Das Mitmachen in diesen Räumen macht Spaß, ist motivierend, vertrauensvoll und schafft Verbundenheit.
- Demokratische Systemaufstellungen werden selbstverständlich auf politischen Treffen genutzt, um komplexe Zusammenhänge erfahrbar zu machen und neue Perspektiven zu eröffnen.
- Im Parlament wird nicht mehr nur in Fraktionen gedacht und abgestimmt, sondern es werden in alle Parteien einbeziehenden Prozessen gemeinsame Lösungen erarbeitet. So entsteht eine neue Erzählung der Kooperation statt der Konkurrenz. Die Lösungskompetenz der Politik ist hoch und wird von der Bevölkerung gesehen und wertgeschätzt.
- Das Regierungssystem wird ergänzt durch neue Beteiligungsformate wie z. B. Bürgerräte, um die kollektive Intelligenz der Gesellschaft bei wichtigen Themen einzubinden. Immer mehr Bürgerinnen und Bürger machen so Erfahrungen von Wirksamkeit.
- Politische Debatten, z. B. in Bürgerräten, aber auch innerhalb von Parteien und NGOs, werden von ausgebildeten Prozessbegleiterinnen und -begleitern moderiert, die durch ihre Kompetenzen konstruktive Dialogsituationen ermöglichen, in denen auch Kontroversen und Konflikte bearbeitet werden können.
- Es existiert ein gesamtgesellschaftliches Bewusstsein über die Dynamik kollektiver Traumata, vor allem in Krisenzeiten. Politikerinnen und Politiker handeln, argumentieren und diskutieren auf traumainformierte Weise.
- In Forschungsprojekten wird die Wirkungsweise der neuen demokratischen Kultur evaluiert und damit die Basis für weitere Entwicklungen innerhalb Gesellschaft und Politik geschaffen.
Zusammengefasst hat eine demokratische Kultur, wie wir sie uns wünschen, folgende Eigenschaften:
- Sie bringt kluge und weitsichtige Entscheidungen hervor, die die kollektiverIntelligenz nutzen und positive Auswirkungen auf alle oder möglichst viele Beteiligte haben.
- Sie ist inklusiv, denn auch marginalisierte Stimmen werden gehört und in politische Prozesse mit einbezogen.
- Sie wirkt empowerend auf die Beteiligten: Diese nehmen sich als politische Akteure wahr, die Einfluss nehmen können und auf kooperative Weise mit Politikerinnen und Politikern zusammenarbeiten.
Unsere Formate zum Mitmachen
Das Dialogformat »Sprechen & Zuhören«
Hier geht es nicht um den in der Politik üblichen Schlagabtausch, sondern zunächst um gegenseitige Wahrnehmung und Akzeptanz. Die Ausgangsfrage lautet nicht: „Wer hat recht beim Thema X?“, sondern „Wie geht es Dir mit X?“. Solche Gesprächsräume helfen, auch in Konflikten und Krisen eine Verbindung zu anderen und andersdenkenden Menschen aufrechtzuerhalten. Auf dieser Basis kann dann eine gute Faktendebatte um die Frage „Wie lösen wir X?“ entstehen.
Demokratische Systemaufstellungen
Mit demokratischen Systemaufstellungen haben wir ein Format entwickelt, das zivilgesellschaftlich Engagierten und Menschen aus Politik und Verwaltung hilft, zu neuen Einsichten und Handlungsmöglichkeiten zu kommen. In diesen Aufstellungen verkörpern Menschen z.B. Elemente wie „die Gewählten”, „die Bevölkerung”, „direkte Demokratie”, „die Klima-Bewegung”, „ein politisches Ziel”. Sie sprechen und bewegen sich stellvertretend für diese Elemente und treten in Beziehung zueinander. Der abstrakte Begriff „Demokratie“ wird mit Hilfe von Aufstellungen greifbarer; die Teilnehmenden machen eine konkrete Demokratie-Erfahrung. Auf der Bewusstseinsebene entsteht dabei mehr Verbundenheit mit der Demokratie.
Die Erforschung der Zusammenhänge zwischen kollektiven Traumata und Politik
Oft spielen bei gesellschaftlicher Polarisierung – ausgelöst durch aktuelle Ereignisse – auch vergangene Erfahrungen eine Rolle. Dazu zählen Negativ-Erfahrungen (Traumata), wie sie etwa die Weltkriege, Flucht und Vertreibung, Kolonialismus und Rassismus oder Diktaturen und Unterdrückung im eigenen Land hinterlassen haben. Solche Einflüsse gehen über individuell erlebte Traumata hinaus und beeinflussen uns als Menschen teilweise über Generationen hinweg. Diese unverarbeiteten, traumatischen Erfahrungen sind meist im Unbewussten verhaftet, werfen ihre Schatten auf aktuelle Konflikte und verhindern angemessene Lösungen. Sie können wie der ungesehene Elefant im Raum sein. Diese Dimensionen und daraus resultierenden Dynamiken müssen in der politischen Entscheidungsfindung mehr und mehr mit berücksichtigt werden. Die aktuellen Krisen machen deutlich, wie notwendig eine traumainformierte Politik ist.
Künstlerische Formate
„Jeder Mensch ist ein Künstler” - mit diesem Satz hat Joseph Beuys das Konzept der „Sozialen Plastik” beschrieben. Aus der tiefen Überzeugung heraus, dass jeder Mensch seinen Fähigkeiten entsprechend die Gesellschaft mitgestalten und dadurch schöpferisch tätig sein kann, hat Beuys 1971 in Düsseldorf die „Organisation für Direkte Demokratie durch Volksabstimmung“ gegründet. Nach diesem Verständnis ist politische Aktivität selbst ein künstlerischer Akt.
Zugleich können gerade Kunst und Kultur neue Zugänge zu politischen Themen eröffnen und Empathie wecken, denn sie sprechen uns als ganze Menschen an. Mehr Demokratie probiert vor diesem Hintergrund kulturelle Formate aus und wünscht sich künstlerische Kooperationen. 2021 haben wir zum Beispiel im Rahmen unserer Debatten- und Informationsplattform „Die Klimadebatte” ein politisches Musik-Experiment mit einem professionellen Ensemble gestartet.