Demokratische Kultur – Ein Arbeitsfeld für Mehr Demokratie

Im Arbeitsfeld „Demokratische Kultur“ beschäftigen wir uns mit den inneren Voraussetzungen einer lebendigen Demokratie. Unsere demokratischen Strukturen sind darauf angelegt, die Würde des Menschen zu schützen und Freiheit zu gewährleisten. Doch der staatliche Rahmen allein schafft noch keine lebendige Demokratie: Um sie erlebbar zu machen, sind bestimmte innere Haltungen notwendig, bestimmte Herangehensweisen und Formate hilfreich. Eine solche demokratische Kultur lässt sich nicht regeln oder verordnen – sie muss entwickelt, bewegt und praktiziert werden. Aus dieser Dynamik heraus lassen sich dann auch die Strukturen weiterentwickeln. Dies ist auch die Essenz der berühmten Aussage des Staatsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“

Wie kann eine demokratische Kultur entstehen?

Doch wie kann diese demokratische Kultur entstehen? Oft können wir nicht leben und verkörpern, was wir schon zu wissen meinen. Eine kognitive Einsicht ist eben noch kein integriertes Fühlen, Denken und Handeln. Sondern sie führt oft zu unverbundenen Auseinandersetzungen, in denen versucht wird „die anderen“ mit Argumenten zu überzeugen oder sogar zu dominieren, ohne sie als Menschen in ihrer jeweiligen Situation zu sehen.

Demokratie ist keine reine Kopfsache. Sie wird von Emotionen, Beziehungen, Überzeugungen und Wahrnehmungsmustern beeinflusst.

Im Arbeitsbereich Demokratische Kultur geht es um die Erforschung und Bearbeitung dieser oft zu wenig wahrgenommenen Faktoren. Wir erleben eine Individualisierung der Gesellschaft, den Zerfall traditioneller Bindungen und moralischer Institutionen. Verbundenheit – oder eben Unverbundenheit – erleben wir bei uns selbst an, in der Begegnung mit anderen Menschen und bezogen auf größere Zusammenhänge. Wir stehen vor der Herausforderung, eine neue Verbundenheit in Vielfalt herzustellen – und das geht nur durch Kommunikation. Ein neues erfolgreiches Modell dafür sind die gelosten Bürgerräte, in denen unterschiedlichste Menschen aus der Mitte der Gesellschaft an gemeinsamen Lösungen arbeiten können.

Das Gespräch ist die Seele der Demokratie. Doch was ist eigentlich ein gelungenes demokratisches Gespräch? Klar ist, wir sind dabei immer als ganze Menschen beteiligt, mit unseren Gedanken, Gefühlen und Sinneswahrnehmungen. Es ist vielfach belegt: Meinungen und Entscheidungen werden nicht nur rational gebildet, sondern sie werden auch zu einem sehr hohen Anteil emotional beeinflusst. Um zu umfassenden und besonnenen Entscheidungen zu kommen, braucht es also auch ein Bewusstsein für emotionale Einflüsse.

 

„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“

Ernst-Wolfgang Böckenförde

Räume der Begegnung schaffen

In der Demokratie geht es immer auch um die Beziehung untereinander oder zueinander. Die Demokratie umfasst eine Gemeinschaft der Vielen mit unterschiedlichen Meinungen, Erfahrungen und Charakteren, aber mit gleichen Rechten. Die Grundlage und der Ausgangspunkt für Veränderung ist demnach eine Kultur des Sich-Einigens, die geprägt ist von gegenseitigem Vertrauen, Dialog, Wertschätzung, gemeinsamem Gestalten. In der Regel geht die Kultur der Struktur voraus und prägt diese. 

In der Politik erleben wir immer wieder, wie vernünftig erscheinende Lösungen und gute Ideen an verkrusteten Strukturen oder emotionalen Blockaden scheitern. Um die Demokratie weiterzuentwickeln, müssen wir daher an der politischen Kultur genauso arbeiten wie an der politischen Struktur. Gerade in Krisenzeiten ist es eine Voraussetzung für angemessene Lösungen und ein gutes Zusammenleben, dass gesellschaftliche Polarisierung und Fragmentierung überwunden werden. Ohne die Arbeit an der politischen Kultur ist das nicht denkbar.

Im Zentrum stehen für uns die Fragen: Wie sehr können die Menschen Teil demokratischer Prozesse sein und welche Grenzen und welche Hemmnisse gibt es? Und umgekehrt, wie nah kann Demokratie bei den Menschen sein? Wie kann sie erlebbar werden und die Menschen berühren? Wie demokratiefähig sind wir eigentlich? Wo spalten wir uns ab von den anderen und entziehen uns der demokratischen Gemeinschaft? Wo empfinden wir uns als Teilhaberinnen und Teilhaber? Erleben wir uns als verbunden oder abgetrennt?

Um diesen Fragen näherzukommen, erproben wir verschiedene Formate.

    Unsere Formate zum Mitmachen

    Das Dialogformat „Sprechen und Zuhören“
    Hier geht es nicht um den in der Politik üblichen Schlagabtausch, sondern zunächst um gegenseitige Wahrnehmung und Akzeptanz. Die Ausgangsfrage lautet nicht: „Wer hat recht beim Thema X?“, sondern „Wie geht es Dir mit X?“. Die Hoffnung ist, dass solche Gesprächsräume helfen, auch in Konflikten und Krisen eine Verbindung zu anderen und andersdenkenden Menschen aufrecht zu erhalten. Auf dieser Ausgangsbasis kann dann eine gute Faktendebatte um die Frage „Wie lösen wir X?“ entstehen.

    Systemaufstellungen zu Demokratiethemen
    Mit Systemaufstellungen zur Demokratie haben wir ein Format entwickelt, das zivilgesellschaftlich Engagierten und Menschen aus Politik und Verwaltung hilft, zu neuen Einsichten und Handlungsmöglichkeiten zu kommen. In diesen Aufstellungen verkörpern Menschen z.B. Elemente wie „die Gewählten”, „die Bevölkerung”, „direkte Demokratie”, „die Klima-Bewegung”, „ein politisches Ziel”. Sie sprechen und bewegen sich stellvertretend für diese Elemente und treten in Beziehung zueinander. Der abstrakte Begriff „Demokratie“ wird mit Hilfe von Aufstellungen greifbarer; die Teilnehmenden machen eine konkrete Demokratie-Erfahrung. Auf der Bewusstseinsebene entsteht dabei mehr Verbundenheit mit der Demokratie.

    Die Erforschung der Zusammenhänge zwischen kollektiven Traumata und Politik
    Oft spielen bei gesellschaftlicher Polarisierung – ausgelöst durch aktuelle Ereignisse – auch vergangene Erfahrungen eine Rolle. Dazu zählen Negativ-Erfahrungen (Traumata), wie sie etwa die Weltkriege, Flucht und Vertreibung, Kolonialismus und Rassismus oder Diktaturen und Unterdrückung im eigenen Land hinterlassen haben. Solche Einflüsse gehen über individuell erlebte Traumata hinaus und beeinflussen uns als Menschen teilweise über Generationen hinweg. Diese unverarbeiteten, traumatischen Erfahrungen sind meist im Unbewussten verhaftet, werfen ihre Schatten auf aktuelle Konflikte und verhindern angemessene Lösungen. Sie können wie der ungesehene Elefant im Raum sein. Diese Dimensionen und daraus resultierenden Dynamiken müssen in der politischen Entscheidungsfindung mehr und mehr mit berücksichtigt werden. Die aktuellen Krisen machen deutlich, wie notwendig eine traumainformierte Politik ist.

      Künstlerische Formate
      „Jeder Mensch ist ein Künstler” - mit diesem Satz hat Joseph Beuys das Konzept der „Sozialen Plastik” beschrieben. Aus der tiefen Überzeugung heraus, dass jeder Mensch seinen Fähigkeiten entsprechend die Gesellschaft mitgestalten und dadurch schöpferisch tätig sein kann, hat Beuys 1971 in Düsseldorf die „Organisation für Direkte Demokratie durch Volksabstimmung“ gegründet. Nach diesem Verständnis ist politische Aktivität selbst ein künstlerischer Akt.

      Zugleich können gerade Kunst und Kultur neue Zugänge zu politischen Themen eröffnen und Empathie wecken, denn sie sprechen uns als ganze Menschen an. Mehr Demokratie probiert vor diesem Hintergrund kulturelle Formate aus und wünscht sich künstlerische Kooperationen. 2021 haben wir zum Beispiel im Rahmen unserer Debatten- und Informationsplattform „Die Klimadebatte” ein politisches Musik-Experiment mit einem professionellen Ensemble gestartet.

        Die Vision

        Wir wünschen uns eine zukunftsfähige, sich entwickelnde und vertiefende Demokratie. Eine Demokratie, in der alle Erfahrungen wichtig sind und die Erfahrungen Aller Anerkennung finden können. Eine Demokratie, mit der wir uns verbunden fühlen und in der wir selbstbewusst und kreativ Einfluss nehmen können. Eine Demokratie, in der die Vielfalt als gewinnbringend integriert wird und kollektive Intelligenz zu umfassenden Lösungen führt.

        Um das zu erreichen, reicht es nicht mehr aus, nur auf das Außen, also Strukturen, Gesetze und Institutionen zu schauen. Wir müssen auch Kulturkompetenzen entwickeln, die unsere Unzulänglichkeiten, Blockaden und geschichtliche Vergangenheit berücksichtigen und integrieren, sodass das die Gesamtentwicklung nicht durch die Schatten der Vergangenheit verhindert wird. Es kommt nicht nur darauf an, dass wir uns für neue demokratische Instrumente einsetzen, sondern wir müssen uns auch um eine neue Qualität der demokratischen Prozesse kümmern. 

        Wir sehen eine Zukunft, in der diese Wünsche Form annehmen:

        • Im ganzen Land gibt es eine vibrierende Zivilgesellschaft, die sich wie bei „Sprechen und Zuhören“ zu Dialog- und Resonanzräumen zusammenfindet. Dort werden die politischen Entscheidungen der Zukunft vorbereitet.
        • Es entsteht ein Bewusstsein über die Dynamik kollektiver Traumata vor allem in Krisenzeiten. Politikerinnen und Politiker werden in traumainformierter Führung ausgebildet und so in die Lage versetzt, einer gestressten Gesellschaft Halt und Richtung zu geben.
        • Systemische Aufstellungen werden selbstverständlich auf politischen Treffen genutzt, um komplexe Zusammenhänge sinnlich erfahrbar zu machen.
        • In großen Forschungsprojekten wird die Wirkungsweise der neuen demokratischen Instrumente evaluiert und damit der ganzen Gesellschaft und Politik zugänglich gemacht.
        • Moderatorinnen und Moderatoren werden in den vertieften Methoden ausgebildet und bringen ihre Kompetenzen z.B. in Bürgerräte, aber auch in Parteien und NGOs ein. Politische Debatten werden durch diese Moderationen lebendiger, anziehender und kreativer geführt.
        • Im Parlament wird nicht mehr nur in Fraktionen gedacht und abgestimmt, sondern auch in gemeinsamen Prozessen gemeinsame Lösungen erarbeitet. So entsteht eine neue Erzählung der Kooperation statt der Konkurrenz. Die Lösungskompetenz der Politik nimmt zu, indem sie ihre Tiefenstrukturen bearbeitet.
        • Dieses Regierungssystem wird ergänzt durch Volksentscheide und Bürgerräte, um die kollektive Intelligenz der Gesellschaft mit einzubinden und bei wichtigen Themen auch der Bevölkerung verbindliche, mehrheitlich getragene Politikentscheidungen zu ermöglichen.
        nach oben