Wie viel Einfluss nimmt der Bundestag auf die Gesetzgebung?
Eine Analyse der in der 19. Wahlperiode (2017 bis 2021) verabschiedeten Gesetze
Der Deutsche Bundestag ist das einzige direkt gewählte Organ auf Bundesebene und das Herz der repräsentativen Demokratie in Deutschland. Die Hauptaufgaben des Bundestages umfassen die Kontrolle der Bundesregierung, die Festlegung des Bundeshaushalts und die Gesetzgebung.
Zielsetzung
In der vorliegenden Untersuchung wird der formale Einfluss von Bundestag und Bundesregierung auf die Gesetzgebung verglichen. Dazu wurden alle 547 in der 19. Wahlperiode verabschiedeten Gesetze geprüft.
Erkenntnisse der Untersuchung
Herkunft der Gesetze: 87,2 Prozent der verabschiedeten Gesetze wurden von der Bundesregierung initiiert. 11,5 Prozent der Gesetzesvorlagen stammten direkt vom Bundestag, 1,3 Prozent vom Bundesrat.
Verabschiedungen ohne Änderungen: 40,3 Prozent aller Regierungsvorlagen wurden ohne oder mit vernachlässigbaren Änderungen verabschiedet.
Inhaltlicher Einfluss: Bei 63,6 Prozent aller verabschiedeten Gesetze nahm der Bundestag inhaltlich Einfluss. Substanzielle Änderungen erfolgten bei 27,8 Pozent aller Gesetze.
Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass der Bundestag formal eher eine Kontroll- als eine Gestaltungsrolle einnimmt. Ein wesentlicher Teil der politischen Entscheidungsfindung findet im vorparlamentarischen Raum statt, insbesondere in der Ministerialbürokratie. Im Gegensatz zu parlamentarischen Debatten sind diese Prozesse jedoch wenig transparent. In der Entwurfsphase ist ein geschützter Raum für kreative Prozesse erforderlich. Doch wenn zu viele Aushandlungen zu lange hinter verschlossenen Türen stattfinden, droht Vertrauen in politische Entscheidungen verloren zu gehen.
Welche Quellen wurden für die Analyse genutzt?
Hauptsächlich wurde das Dokumentations- und Informationssystem für Parlamentsmaterialien (DIP) und das Bundesgesetzblatt genutzt. Für die qualitative Bewertung wurden vor allem die Beschlussempfehlungen des jeweils federführenden Ausschusses analysiert. Sie enthalten eine Zusammenfassung der Beratungen, Verweise auf durchgeführte Anhörungen sowie eine detaillierte Auflistung der vorgeschlagenen und beschlossenen Änderungen zu den jeweiligen Gesetzentwürfen. Sie ermöglichen somit eine fundierte Bewertung, in welchem
Umfang der Bundestag die ursprünglichen Kabinettsentwürfe inhaltlich verändert hat.
Wie wurde die qualitative Analyse der Gesetzesinhalte durchgeführt?
1. In der 19. Legislaturperiode wurden 870 Gesetzentwürfe in den Bundestag eingebracht. Untersucht wird zunächst die Herkunft aller in der Legislaturperiode verabschiedeten Gesetze.
2. Anschließend wird geprüft, ob der Bundestag Änderungen an den Kabinettsvorlagen vorgenommen hat. Hierfür werden der Kabinettsentwurf und die im Bundesgesetzblatt veröffentlichte Fassung verglichen.
3. Inwieweit diese Änderungen inhaltlicher Natur sind, wird im darauffolgenden Analyseschritt quantitativ bewertet. Dabei handelt es sich um eine kursorische Analyse. Wie sich inhaltliche Änderungen letztlich in der Realität auswirken, ist teilweise schwer vorhersehbar. Dabei wird zwischen einem geringen und einem hohen Einfluss unterschieden: Wenn die Qualität der Änderungen durch den Bundestag mindestens ein Viertel des gesamten Inhalts des Gesetzes ausmacht, so wird dem Gesetz ein hoher Änderungsgrad durch den Bundestag zugewiesen. Auch wenn eine vertiefte Analyse in Einzelfällen zu einer anderen Einstufung führen würde, bliebe die Gesamttendenz bestehen.
Wurde tatsächlich jedes der 547 verabschiedeten Gesetze analysiert? Wo finde ich die Rohdaten?
Untersucht wurden alle Gesetze, die von der Bundesregierung in den Bundestag eingebracht wurden. Die Gesetze, die aus der Mitte des Bundestages selbst eingebracht wurden, werden bei der Untersuchung ausgeklammert, da angenommen wird, dass der inhaltliche Einfluss des Parlaments bei diesen Vorlagen hoch ist.
Die gesamten Rohdaten der Untersuchung der 477 Gesetze, die auf Gesetzentwürfe der Regierung zurückgingen, können als Excel-Tabelle im Download-Bereich am unteren Ende der Seite heruntergeladen werden.
Welche Reformen werden vorgeschlagen?
1. Einheitliches Verfahren für Referentenentwürfe
Der erste Schritt im Gesetzgebungsprozess, die Erarbeitung eines Referentenentwurfs in den Ministerien, erfolgt bislang ohne einheitliche Standards. Ist ein Entwurf erst einmal im Bundestag angekommen, wird er oft genug ohne wesentliche Änderungen verabschiedet. Das entspricht dem Beteiligungsparadoxon: Je weiter ein Projekt voranschreitet, desto weniger Möglichkeiten zur Einflussnahme für alle Beteiligten gibt es – und umgekehrt. Umso wichtiger ist es, dass die wesentlichen Inhalte von Anfang an demokratisch legitimiert und öffentlich erörtert werden.
2. Frühzeitige Einbindung des Bundestages
Alle Abgeordneten sollten frühzeitig und umfassend in den Gesetzgebungsprozess eingebunden werden. Gerade bei weitreichenden Gesetzesvorhaben sollte der Bundestag die zentralen inhaltlichen Weichenstellungen vornehmen. Eine öffentliche Debatte über das Problem und mögliche Lösungen sollte dem formalen Gesetzgebungsverfahren vorausgehen – und zwar noch bevor die juristische Ausarbeitung beginnt.
3. Digitalisierung der Gesetzgebung
Eine moderne, digitale Infrastruktur ist entscheidend für mehr Transparenz und Effizienz. Ein durchgängiges, elektronisches Gesetzgebungsverfahren würde den gesamten Prozess nachvollziehbarer machen und die Partizipation erleichtern. Die im Aufbau befindliche E-Gesetzgebung des Bundes könnte die verschiedenen Stufen des Rechtsetzungsprozesses und die Zusammenarbeit zwischen Ressorts medienbruchfrei verzahnen.
4. Partizipative Gesetzgebung
Strukturell und rechtlich verankerte Partizipationsmöglichkeiten in allen Phasen des Gesetzgebungsprozesses sind notwendig. Beispiele aus Baden-Württemberg und Thüringen zeigen, dass Beteiligungsportale Bürgerinnen und Bürger, Zivilgesellschaft und Wirtschaft die Möglichkeit bieten, aktiv Einfluss zu nehmen. Partizipative Verfahren ermöglichen es, Konflikte frühzeitig zu entschärfen und gesellschaftlich tragfähigere Lösungen zu finden.
5. Einführung eines Transparenzgesetzes
Ein Transparenzgesetz könnte den Zugang zu Gutachten, Stellungnahmen und anderen entscheidungsrelevanten
Dokumenten erleichtern. In Kombination mit einem erweiterten Lobbyregister, das die »exekutive Fußspur« dokumentiert, würde dies den Gesetzgebungsprozess nachvollziehbarer machen und das Vertrauen der Öffentlichkeit in den Gesetzgeber stärken.
6. Direktdemokratische Beteiligung
Instrumente wie die initiierende Volksgesetzgebung zur Einbringung von Gesetzen durch Bürgerinnen und Bürger oder fakultative Referenden zur Bestätigung oder Ablehnung von Gesetzesvorhaben könnten die direkte demokratische Legitimation von Gesetzen erhöhen.
Weitere Informationen
Unterstützung
Das Projekt wurde mit Unterstützung der Cocreation Foundation durchgeführt.