Forderungen: Corona - Das Virus und die Demokratie

(aktualisiert am 06. November 2021)

Das Corona-Virus hat eine Krise mit Superlativen ausgelöst: Noch nie wurden in der Geschichte der Bundesrepublik in so kurzer Zeit so viele Grundrechte eingeschränkt, noch nie wurde so deutlich offenbar, was die Gesundheitssysteme hier und anderswo auf dieser Welt zu leisten vermögen – und was nicht. Selten war die Unsicherheit, politische Entscheidungen zu fällen und zu begründen, so spürbar wie in diesen Monaten. Zugleich verständigten sich viele Menschen darauf, sich um der Gefährdetsten willen solidarisch zu verhalten und trugen angeordnete Maßnahmen mit. Andere protestierten, wenn ihnen die Einschränkungen nicht einleuchteten. Es bestehen Ängste, der Ausnahmezustand könnte zur Normalität werden. In aller Eile seien Entscheidungen getroffen worden, die unzureichend begründet und nicht nachvollziehbar seien und nicht alle Konsequenzen sorgfältig genug im Blick hätten.

Die Solidarität der Menschen untereinander fußt auf dem Vertrauen in die Politik. Dies darf nicht verspielt werden. Die demokratische Kernfrage ist, wie Entscheidungsverfahren in so einer Krisensituation aussehen müssen, damit Menschen mit unterschiedlichen Wertvorstellungen und Risikowahrnehmungen diese mittragen, auch wenn sie nicht in ihrem Sinne ausgefallen sind.

Die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland wie auch in anderen Ländern Europas verfügen in der Regel über ein hohes Bildungsniveau, sind über politische und andere Vorgänge gut informiert und zeigen oft ein beachtliches zivilgesellschaftliches und ehrenamtliches Engagement. Diese seit vielen Jahrzehnten beobachtbare Entwicklung liegt dem Engagement für mehr Bürgerbeteiligung und Partizipation zu Grunde. Vormundschaftliche oder gar autoritäre Verfahrensweisen und Kommunikationsstile haben immer schon die Kritik der Zivilgesellschaft herausgefordert. Übertragen auf die Coronakrise betont Mehr Demokratie e.V. deshalb die folgenden Punkte:

 

1. Die Parlamente müssen die grundlegenden Entscheidungen treffen

Damit die parlamentarische Kontrolle der Regierung in einer epidemischen Lage vollständig beim Bundestag und den Landesparlamenten verbleibt, ist es notwendig, dass:

  • die Parlamente gegenüber den jeweiligen Regierungen eine regelmäßige Berichtspflicht einfordern,
  • die Parlamente das Recht wahrnehmen, die Beratungsgremien der Regierung jederzeit zu befragen,
  • die Parlamente das Recht haben, Verordnungen der Regierung, die im Zusammenhang mit einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite erlassen wurden, jederzeit zurückzunehmen, zu verändern oder zu ersetzen,
  • Verordnungen der Exekutive, die im Zusammenhang mit einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite erlassen wurden, zeitlich angemessen befristet werden.

Stehen Maßnahmen von wesentlicher Tragweite an – beispielsweise die Zuteilung von Impfstoffen, der Ausschluss von Teilen der Bürgerschaft von bestimmten Segmenten des öffentlichen Lebens oder eine Impfpflicht –, können diese nicht auf dem Verordnungsweg, sondern nur vom Bundestag selbst getroffen werden.

Zu den Vorteilen des parlamentarischen Verfahrens gehört, dass durch die Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition die ganze Bandbreite der Argumente, auch plausible Gegenmeinungen gehört werden. Abgeordnete sind zudem stärker an die Bürgerinnen und Bürger rückgekoppelt als die Regierungen, die Ministerien und Behörden.

 

2. Die Pandemiebekämpfung vom Ende her denken

Entscheidungen in Politik und Verwaltung benötigen klare Regeln und Verantwortlichkeiten. Bürgerinnen und Bürger, Verbände, Wirtschaft und Gesellschaft sind auf vorhersehbare politische Entscheidungen und transparente Entscheidungsverfahren angewiesen. Anderenfalls wird das Vertrauen in die Demokratie und den Rechtsstaat unterminiert.

Sicher: In einer unvorhergesehenen Krise müssen Entscheidungen getroffen werden, die nicht planbar sind. Es ist die vielzitierte „Stunde der Exekutive“. Diese muss dann „auf Sicht“ entscheiden und beansprucht entsprechende Freiräume.

Grundsätzlich ist es wichtig, dass wir als Gesellschaft gemeinsam definieren, wann eine Pandemie als beendet betrachtet werden und wie eine neue regelbasierte Normalität dann aussehen soll. Die Ziele der Pandemiebekämpfung ergeben sich nicht monokausal aus den Kennzahlen der Virologen und Epidemiologen, sondern aus den Werten, die uns als Gesellschaft kennzeichnen. Diese können nicht dauerhaft zurückgestellt oder mitten in der Pandemie ohne öffentliche oder parlamentarische Diskussion geändert werden. Es braucht hierzu den Diskurs zwischen Parlamenten, Bürgerinnen und Bürgern und der Wissenschaft.

Aus einer demokratiepolitischen Perspektive sind alle pandemiebedingten Grundrechtseinschränkungen aufzuheben, wenn das Gesundheitssystem und die öffentliche Sicherheit nicht mehr gefährdet sind.

 

3. Klare Zahlenbasis, breit besetzte Beratungsgremien und transparente Entscheidungsfindung

Politische Entscheidungen müssen nachvollziehbar und möglichst evidenzbasiert sein, d.h. sie müssen auf empirischer und auf wissenschaftlicher Grundlage erfolgen.

Zudem heißt es jetzt, den Standard der Informationsfreiheit zu erfüllen: Strategiepapiere, Szenarien, Gutachten, Modellrechnungen von Ministerien und Instituten müssen automatisch veröffentlicht werden. Die von den Regierungen eingesetzten Krisenstäbe und ihre Besetzung sind transparent zu machen.

Die Beratung der Politik muss interdisziplinär erfolgen. Eine Pandemie ist nicht nur eine virologische Krise, vielmehr ein medizinisch-pflegerisches Problem. Und nicht nur das. Die Mitwirkung der Sozialwissenschaften, der Ethik, der Ökonomie, von Rechts- und Politikwissenschaft sind unverzichtbar. Unbedingt sind auch „Nebenwirkungen“ der Corona-Krise, sowie von Corona-Maßnahmen mit zu bedenken: soziale Isolation, Angstzustände und Depressionen, das Ansteigen häuslicher Gewalt, Einschränkungen bei der Gesundheitsversorgung und der Pflege, die wirtschaftlichen und existentiellen Folgen.

 

4. Gesellschaftliche Solidarität in Eigenverantwortung stärken

Bei komplexen, auch für Expertinnen und Experten häufig sehr schwer zu durchschauenden Ursache-Wirkungs-Ketten müssen unterschiedliche Risikowahrnehmungen in der Gesellschaft so weit wie möglich respektiert werden. Da mittlerweile Impfstoffe vorhanden sind, die für die allermeisten Bevölkerungsgruppen das Risiko eines schweren Covid-19-Verlaufs stark mindern, sollte den Bürgerinnen und Bürgern mehr Raum für Eigenverantwortung zugestanden werden.

 

5. Den Umgang mit der Krise evaluieren

Das Krisenmanagement von Politik und Verwaltung der verschiedenen politischen Ebenen soll evaluiert und es sollen Lehren für die Zukunft gezogen werden. Hier schlägt Mehr Demokratie vor, eine Parlamentskommission einzusetzen, die hälftig von Abgeordneten und Experten aus der Zivilgesellschaft besetzt ist. Die Ergebnisse sollen von einem losbasierten Bürgerrat bewertet werden. Sollte die Regierung eine Evaluierung des Krisenmanagements nicht für nötig halten, werden wir ein Viertel der Abgeordneten des Bundestages aufrufen, eine Enquetekommission oder einen Untersuchungsausschuss einzusetzen.

 

6. Verhältnismäßigkeit wahren, Verordnungen und Gesetze befristen

Aufzuzeigen und zu dokumentieren ist, mit welchen Maßnahmen welche Ziele erreicht werden sollen und ab wann diese Maßnahmen als erfolgreich betrachtet werden können. Nur so werden die Maßnahmen überprüfbar. Sind die Ziele nicht mit konkreten Zahlen zu untersetzen, verlangt dies umso mehr nach einem breiten gesellschaftlich zu führenden Diskurs.

Jede Maßnahme – sei sie auch auf den ersten Blick noch so gering – muss befristet sein. Und jede Verlängerung ist erneut zu diskutieren und darf nicht einfach durchgewunken werden. Auch ein mehrfach verlängertes Ausnahmegesetz darf nicht in den gewöhnlichen Rechtsbestand übergehen.

Es muss sichergestellt sein, dass nach dem Ende der „epidemischen Lage nationaler Tragweite“ alle Ausnahmegesetze und -verordnungen ausnahmslos und unmittelbar außer Kraft treten.

 

7. Bürgerbeiräte einrichten

Unbedingt notwendig ist es, die Bürgerinnen und Bürger in die Entscheidungsprozesse einzubinden. Das schafft nicht nur Vertrauen, sondern erzeugt auch ein Rückmeldesystem, bei dem alltagsuntaugliche und wenig wirksame Maßnahmen vermieden oder wieder schnell korrigiert werden können. Deswegen fordern wir Bürgerbeiräte auf allen politischen Ebenen. Die wenigen Beispiele auf Länderebene (Baden-Württemberg, Thüringen und Sachsen) oder der kommunalen Ebene (Augsburg) sollten Schule machen.

Zu den Aufgaben der Bürgerbeiräte sollte es gehören, im eigenen Ermessen die Auswirkungen von Maßnahmen zu bewerten, krisenhafte Entwicklungen zu untersuchen und Lösungsvorschläge zu unterbreiten. Bürgerbeiräte sollten dazu ausgewiesene Fachleute ihrer Wahl befragen können und das Recht haben, bei Bedarf auch Fachleute aus dem Beratungsgremium der jeweils zuständigen Regierung anzuhören.

 

8. Wahlen nicht einschränken

Weder das aktive noch das passive Wahlrecht dürfen durch Corona-Maßnahmen unangemessen eingeschränkt werden. Corona-Maßnahmen dürfen nicht dazu führen, dass Bewerberinnen und Bewerber im Zulassungsverfahren benachteiligt werden.

Ein Verschieben von Wahlen sollte nur dann als Ultima Ratio zulässig sein, wenn trotz aller realistischen Anstrengungen eine Einschränkung des aktiven oder des passiven Wahlrechtes nicht verhindert werden kann. Analoges gilt für das Verschieben von Volksabstimmungen.

Die Briefwahlunterlagen sollten allen Stimmberechtigten automatisch zugestellt, aber dennoch die Wahllokale geöffnet werden. So würde der bisherige Standard nicht zurückgeschraubt, sondern ausgebaut und ein Instrument für eine Modernisierung des Wahlrechts und die Steigerung der Wahlbeteiligung eingeführt werden, das sich auch über die Corona-Krise hinaus beibehalten ließe.

Die für Bürger- und Volksbegehren geltenden Verfahrensanforderungen wie beispielsweise Fristen für die Unterschriftensammlungen müssen an Pandemie-Bedingungen angepasst werden. Hierfür sind die gesetzlichen Grundlagen zu schaffen. Die Möglichkeiten online zu unterschreiben, sollten vorangebracht werden.

Die Politik ist im Übrigen gut beraten, Themen, bei denen ein großer Diskussionsbedarf in der Zivilgesellschaft zu vermuten ist, nicht gerade in Lockdown-Zeiten „durchzudrücken“, weil die Möglichkeiten des Austauschs, der Debatte sowie für Unterschriftensammlungen, Demonstrationen und Bürger- und Volksbegehren begrenzt sind.

 

9. Weltweit solidarisch sein

Die Corona-Krise wirkt auf die globale Ungleichheit wie ein Brandbeschleuniger: Die Folgen sind für die Schwächsten am härtesten. Mehr als 100 Millionen Menschen zusätzlich, so schätzt die Welthungerhilfe, könnten durch Corona in Hungersnot geraten. Viele haben ihre Arbeit verloren und haben in den armen Ländern keinerlei Einkommen mehr. Zudem sind, weil der Handel erschwert ist, die Preise gestiegen und Grundnahrungsmittel sind für viele Menschen nicht mehr bezahlbar. Die Zahl der Hungernden könnte auf eine Milliarde anwachsen. Die internationale Gemeinschaft muss jetzt helfen. Das Corona-Virus lehrt uns: Wir gehören zu der einen Weltfamilie.

Impfstoffe, die bei uns nicht verimpft werden können, müssen in andere Länder weitergegeben werden, bevor sie verfallen.

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