CETA: Zentralisierungs-Keule stecken lassen, nachdenken, neu machen!

Von Ralf-Uwe Beck, Anne Dänner, Claudine Nierth

Nachdem die Wallonen die CETA-Unterzeichnung blockiert haben, werden die Rufe nach politischer Zentralisierung zum Wohle Europas laut. CETA-Befürworter*innen und Journalist*innen machen die Wallonie zum Sündenbock für das mögliche Scheitern CETAs und den Ansehensverlust der EU. Dabei geht in der Argumentation einiges durcheinander. Mehr Demokratie erklärt in sechs Thesen, warum den Wallonen nicht der Schwarze Peter zugespielt werden sollte und warum Europa nicht durch stärkere Zentralisierung gerettet werden muss.

1. Die Wallonen haben CETA nicht verhindert, sondern aufgehalten

Es ist keineswegs so, dass CETA ein von allen für gut befundenes Abkommen wäre, dem sich nur ein winziger Landesteil verweigert. Auch die Region Brüssel-Hauptstadt hat sich quergestellt. Über 300 Städte und Gemeinden europaweit haben sich zu TTIP- und CETA-freien Zonen erklärt. Mitgliedstaaten, etwa Österreich, Bulgarien, Rumänien und Frankreich, haben bis vor Kurzem innen- und außenpolitisch gerungen, in Deutschland steht ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu CETA noch aus.

Seit Monaten schraubt die EU-Kommission an CETA herum und präsentiert unter dem Druck der Zivilgesellschaft und der Parlamente halbgare Problemlösungen zur Schiedsgerichtsbarkeit, zum Verbraucherschutz, zum Schutz der Demokratie und Daseinsvorsorge. Überzeugen konnte sie bisher nicht. Dies hat der Widerstand der Wallonier nicht verursacht, er offenbart es nur.

2. Das „Nein“ der Wallonie ist Teil eines demokratischen Prozesses

Das „Nein“ der belgischen Regionen ist nicht nur politisch nachvollziehbar (siehe 1.), es steht auch mit dem demokratischen Prozess in Einklang. Schließlich wurde beim Treffen des Rates der Europäischen Union in Bratislava Mitte Oktober festgelegt, dass die Unterzeichnung von CETA nur nach einem einstimmigen Beschluss erfolgen kann. Die belgischen Regionen nehmen für sich in Anspruch, offene Fragen zu klären, bevor sie sich abschließend zu CETA positionieren.

Das mag für die EU-Spitzen und Kanada ärgerlich sein – einen Abbruch der Beziehungen bedeutet es nicht. Es ist denkbar, dass der EU-Kanada-Gipfel einfach um ein paar Wochen verschoben wird und danach der Ratifizierungsprozess in den Mitgliedstaaten wie geplant ablaufen kann. Auch ein anderes Land könnte noch „Nein“ zu CETA sagen oder zumindest die vorläufige Anwendung stoppen.

Es ist sogar denkbar, dass CETA tatsächlich scheitert. Und dann?! Dann müssten bei künftigen Handelsabkommen andere Transparenz-Maßstäbe angelegt werden, Parlamente und Zivilgesellschaft von Anfang an beteiligt werden. Die bessere Politik lernt aus Fehlern, anstatt Sündenböcke für das eigene Fehlverhalten ausfindig zu machen. Wie Handelsverträge zukünftig gestaltet werden sollten, dazu gibt es hier konkrete Vorschläge von Mehr Demokratie

3. CETA geht weit über Außenpolitik und Handel hinaus.
    Deshalb muss es für alle Mitgliedstaaten tragbar sein.

Anders als Verträge, die etwa den Wegfall von Zollschranken zum Gegenstand haben, greift CETA tief in rechtsstaatliche und demokratische Abläufe in den Mitgliedstaaten ein. Die EU-Kommission tut gut daran, CETA als gemischtes Abkommen zu behandeln. Der von manchen als umständlich erlebte Ratifizierungsprozess über die einzelnen Mitgliedstaaten ist keine Schwäche des Verfahrens oder der EU, sondern eine Stärke. Wie gut begründet die Bedenken sind, dass CETA Demokratie und Rechtsstaat gefährden könnte, hat die Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht am 12. Oktober gezeigt.

Ginge es bei CETA wirklich nur um Handel, hätten sich die Richter*innen überhaupt nicht damit befasst. Tatsächlich geht es aber auch um die drohende Etablierung einer Paralleljustiz, um die Entstehung von übermächtigen Steuerungs-Ausschüssen, die in die Hoheit der nationalen Parlamente eingreifen könnten und um die Frage, wie CETA und seine vorläufige Anwendung überhaupt wieder gekündigt werden können. Wenn so weitreichende Entscheidungen – auch für die Politik in den Mitgliedstaaten! – getroffen werden, kann das nur mit der Zustimmung aller geschehen. Es ist keine Lösung, CETA oder irgendein anderes internationales Abkommen dieser Tragweite einfach durch die EU-Institutionen zu beschließen und den Mitgliedstaaten dann die Anwendung zu verordnen und den Bürger*innen die Auswirkungen zuzumuten. 

4. CETA-Gegner*innen sind weder alle Nationalisten,
    noch wollen sie die EU zerstören

Es ist zu einfach und ungerechtfertigt, nun die „Nationalismus“- und „Egoismus“-Keule gegen diejenigen zu schwingen, die sich gegen CETA stellen. Der Widerstand gegen CETA zieht sich durch alle europäischen Länder und durch verschiedene soziale Milieus. Wie sich die Protestierenden in Deutschland zusammensetzen, hat das Institut für Protest und Bewegungsforschung anlässlich der Demonstrationen gegen CETA und TTIP 2015 und 2016 untersucht.

Ergebnis: „Die Beteiligung von rechts ist verschwindend gering. […] Anders als bei den Montagsmahnwachen, bei denen Medien, Regierung und Europäischer Union zu 90 Prozent mit Misstrauen begegnet wurde, findet man unter den auf der TTIP-Demonstration Befragten trotz der deutlichen Kritik ein verbreitetes Vertrauen in die Institutionen der liberalen Demokratie. […] Die TTIP-Demonstrationen […] gleichen eher dem Profil anderer Großdemonstrationen: hoch gebildet, sich als links einordnend, deutlich in der Kritik, aber in Loyalität zur liberalen Demokratie.“

Die Behauptung „Wer nicht für CETA ist, ist gegen…“ wird gerade in allen Facetten aufgestellt: „Wer nicht für CETA ist, ist gegen die Demokratie.“, „…ist gegen Handelsbeziehungen mit anderen Staaten“, „…ist gegen die EU/gegen Kanada“. Wie wäre es, sich einzugestehen, dass Millionen von Menschen einfach nur gegen CETA sind, weil es ein schlecht gemachtes internationales Abkommen ist, das ihre Zukunft auf Jahrzehnte hinaus beeinflussen kann? 

5. Europa kann nicht an den europäischen Regionen vorbei entwickelt werden

Wer jetzt vorschlägt, die EU einfach über die Köpfe von „Quertreibern“ hinweg zu entwickeln, übersieht:

  • Die EU wird bereits jetzt als bürgerfern wahrgenommen, viele Menschen fühlen sich zwar mit dem Gedanken eines friedlichen Zusammenlebens und -wirtschaftens in Europa verbunden, aber sehen die EU als Institutionengefüge kritisch. Das liegt unter anderem daran, dass die EU über Jahrzehnte von einigen einflussreichen Ländern und Personen gestaltet wurde. Bis heute gibt es – bis auf die Europäische Bürgerinitiative, mit der sich lediglich Regelungsbedarf signalisieren lässt – keine Mitbestimmungsmöglichkeiten für Bürger*innen auf EU-Ebene. Das europäische Parlament ist im Vergleich zu Kommission und Rat schwach und darf bereits getroffene Entscheidungen oft im Nachhinein nur noch bestätigen oder pauschal ablehnen. Die EU bedarf einer Demokratisierung, keiner weiteren Zentralisierung.
  • Die momentanen Entscheidungsstrukturen und Abläufe auf EU-Ebene spielen denjenigen in die Hände, die Europa spalten und den Nationalstaat als Lösung der aktuellen Probleme verkaufen. Das gleiche würde passieren, wenn der EU nun als Konsequenz aus einem CETA-Scheitern noch mehr Macht verliehen würde. Dabei gibt es Wege zwischen „Mehr EU“ und „Zurück zum Nationalstaat“. 

6. Es gibt Alternativen! Das Scheitern von CETA bedeutet nicht
     den Zusammenbruch, sondern eine Chance für Europa.

Was passiert eigentlich, wenn CETA nicht zu Stande kommt? Es macht einmal mehr deutlich, dass die EU, so wie sie jetzt ist, nicht einfach weiterfunktionieren wird. Aber es bedeutet nicht, dass jetzt alles in Nationalismus und Handlungsunfähigkeit versinken muss. Gerade im Widerstand gegen CETA hat sich eine europaweit und bis nach Kanada vernetzte Bewegung entwickelt, die sich eben nicht auf rein nationalstaatliche Interessen, sondern auf gemeinsame Überzeugungen stützt. Es geht nicht nur darum, etwas zu blockieren, sondern es gibt Alternativkonzepte zu „Freihandelsabkommen“, sie werden nur noch nicht breit diskutiert.

Es gibt auch ergänzende Konzepte zur EU in ihrer jetzigen Form:

Mehr Demokratie hat konkrete Vorschläge gemacht, wie eine bürgernähere und demokratischere EU aussehen könnte. Die EU müsste grundlegend umgebaut werden, ein von Bürgern direkt gewählter Verfassungskonvent soll neue EU-Verträge entwickeln. Neben dem Europäischen Parlament, das ein Initiativrecht für Gesetze und das alleinige Haushaltsrecht bekommen sollte, schlägt Mehr Demokratie eine zweite Kammer vor, die sich aus direkt gewählten Vertretern der Mitgliedstaaten oder Regionen zusammensetzt.

Sie würde sicherstellen, dass die Mitglieder nicht nur die nationalen Regierungen und die nächste Wahl im Blick haben. Die Mitgliedstaaten könnten auf freiwilliger Basis vereinbaren, in welchen Bereichen sie zusammenarbeiten wollen – einen Zwang zu immer engerer Integration sollte es nicht geben.

Fest steht: Wir stehen in Europa vor Herausforderungen, die alten Strukturen funktionieren nicht mehr und das wird nicht besser werden, wenn sich die EU-Eliten jetzt einigen und versuchen, Europa alleine zu gestalten. Das Fazit aus dem CETA-Zirkus sollte deshalb lauten: „Das können wir besser. Nur Mut, Europa!“

Forderungen von Mehr Demokratie zur Demokratisierung von EU‐Handelsverträgen

Die Kritik an den inhaltlichen und demokratiepolitischen Problemen von TTIP, CETA, TiSA und weiteren Handels- und Investitionsverträgen ist mittlerweile fast schon Gemeingut geworden. Dagegen sind Vorschläge, wie die Handelspolitik in Zukunft anders ablaufen soll, sehr selten. Hiermit sollen Forderungen in die Diskussion gebracht werden, wie Handelsverträge der EU demokratisiert werden können.

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