Ideen für eine resiliente Demokratie - „Die zerrissene Gesellschaft“

Ein Interview mit Claudine Nierth und Roman Huber –  von Dieter Halbach

Dieter Halbach: Der Themen-Schwerpunkt dieses Magazins lautet „Die zerrissene Gesellschaft“. Wir haben angesichts der zunehmenden Spaltung unserer Gesellschaft den gleichen Titel gewählt wie euer Buch. Was war euer Motiv, dieses Buch zu schreiben?

Roman Huber: In unserer langjährigen Arbeit bei Mehr Demokratie sind wir immer wieder an unsichtbare Grenzen gestoßen, wo nichts weiterzugehen schien. Zugespitzt hat sich dies in der Coronazeit. Die Gründe dafür sind nach unserer Erfahrung mit den herkömmlichen politischen Erklärungsansätzen kaum zu erfassen. Bewusste wie unbewusste Emotionen spielen eine viel größere Rolle, als ich angenommen hatte. Noch weniger im Bewusstsein ist die oft unter allem liegende Traumaschicht. Sie besteht aus individuellen und sozialen Traumastrukturen, die uns alle betreffen. Sie beeinflussen Gesellschaft wie Politik und haben einen entscheidenden, aber unsichtbaren Anteil an unseren Krisen. Wenn wir uns auch dieser Einflüsse bewusstwerden, kann ein wirklich innovativer demokratischer Dialog entstehen.

Worin zeigt sich für euch die Zerrissenheit der Gesellschaft?

Claudine Nierth: Spaltung entsteht in uns, indem wir uns von etwas zurückziehen, uns distanzieren und etwas ablehnen. Pandemie, Krieg, Klima – politische Themen fordern uns heraus. Sind Meinungen und Positionen erst Teil der eigenen Identität, verändern wir sie nicht mehr. Das wäre zu schmerzhaft. Das Gefühl der Menschen, in einer zerrissenen Gesellschaft zu leben, ist Ausdruck des Nichtdazugehörens, des Nichtgehörtwerdens und des sich selbst als anders Erlebens. Jeder selektiert die Aufnahme von Informationen nach persönlichen Neigungen. Wir nehmen in der Regel auf, was unsere eigene Position bestätigt. Und viele Menschen fühlen sich alleingelassen mit ihren Sorgen, sie erleben den Zusammenhalt der Gesellschaft nicht mehr.

R.H.: Die zerrissene Gesellschaft ist auch eine „getriggerte“ Gesellschaft. Wir können regelrecht von einer traumaaktivierten Gesellschaft sprechen. Traumata sind unverarbeitete seelische Verletzungen, die sich individuell, aber auch kollektiv ins gesellschaftliche Gedächtnis schreiben. Werden sie reaktiviert, ist alles zu viel, zu schnell, zu plötzlich. Wer im Trauma steckt, sieht die Welt durch diese Brille. Auch die Erlebnisse unserer Vorfahrinnen und Vorfahren haben Einfluss auf unser Leben. Kollektives Trauma umfasst Gewaltereignisse wie zum Beispiel Kriege, Hungersnöte, Seuchen, Rassismus, Unterdrückung, die langfristig tiefe Spuren im kollektiven Gedächtnis hinterlassen und dadurch das Verhalten und die Kultur der betroffenen Gemeinschaft und Gesellschaft beeinflussen.

Was ist die grundlegende Aussage und Erkenntnis eures Buches?

R.H.: Emotionen, nicht nur Gedanken bestimmen unser politisches Handeln. Wir müssen Emotionen genauso beachten und einbeziehen wie Inhalte und Sachargumente. Wer die Menschen mit ihren Sorgen und realen Nöten nicht konsequent einbindet, gefährdet die Demokratie. Und der Populismus hat ein leichtes Spiel.

C.N.: Wer sich nicht einbezogen fühlt, beginnt zu resignieren, zu rebellieren oder sich zu radikalisieren. Wir können dies nur in dem Maße überwinden, wie wir in der Lage sind, die Ursachen der Krise in uns selbst zu ergründen. Indem wir die Erfahrungen von Einzelnen in den Zusammenhang des Ganzen stellen, kann Vereinzelung überwunden werden. Wer spürt, dass er Teil einer Gemeinschaft ist und auf sie Einfluss hat, erlebt sich als wirksam und hilfreich für das Ganze. Durch eine sicherere Bindung jedes Einzelnen zur gesamten Gesellschaft schließen sich Spaltungen.

„Wer spürt, dass er Teil einer Gemeinschaft ist und auf sie Einfluss hat, erlebt sich als wirksam und hilfreich für das Ganze. Durch eine sicherere Bindung jedes Einzelnen zur gesamten Gesellschaft schließen sich Spaltungen.“

Claudine Nierth

Was bedeuten diese Erkenntnisse für die Politik und die Weiterentwicklung unserer Demokratie?

R.H.: Man kann Politik und all die komplexen, geopolitischen Zusammenhänge ohne die Kenntnis von individuellen, transgenerationellen oder kollektiven Traumata nicht vollständig verstehen. Ohne die innere emotionale Arbeit eines jeden Einzelnen, ohne die innere Arbeit an Emotionen in Teams und ohne die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit unverarbeiteten Erfahrungen werden sich verhärtete Probleme nicht lösen lassen. Nehmen wir die Deutsch-Deutsche Problematik: Strukturell mag Ost- und Westdeutschland vielleicht zusammengewachsen sein. Aber emotional sind wir immer noch ein Land mit zwei Gesellschaften, die völlig unterschiedliche Erfahrungen gemacht haben. Wenn wir diese Spaltung gemeinsam überwinden wollen, müssen wir uns auch auf eine emotionale Aufarbeitung einlassen. Ohne eine tiefere gesellschaftliche Verständigung droht die Demokratie zu zerfallen.

Wenn wir das aktuelle Beispiel des Aufstiegs der AfD nehmen: Meine Wahrnehmung ist, dass „Brandmauern“ alleine nicht helfen werden, den Brand zu löschen, sondern ihn eher noch anfeuern. Viele Menschen empfinden sich gesellschaftlich als ausgegrenzt und sehen sich durch die Abgrenzung gegenüber der AfD persönlich weiter an den Rand gedrängt. Dennoch braucht es inhaltlich auch eine klare Haltung. Wie kann das zusammen gehen?

C.N.: Meine unmittelbare Erfahrung auf Schleswig-Holsteins Marktplätzen, auf denen wir bei der Unterschriftensammlung für die Volksinitiative „Rettet den Bürgerentscheid!“ täglich mit hunderten Bürgerinnen und Bürgern gesprochen haben, ist: Wir müssen zwischen der AfD-Partei und ihrer Wählerschaft unterscheiden. Die Zahl der resignierten Menschen, die sagen: „Die Politik macht doch eh, was sie will“, ist so hoch wie nie zuvor. Und hier habe ich sowohl die zweiundsiebzigjährige Rentnerin, den mittelständischen Unternehmer und die junge Studentin vor Augen. Während die eine resigniert, der andere rebelliert, überlegt die Dritte, sich zu radikalisieren. Es gibt keinen Zusammenhalt, außer im Misstrauen gegenüber dem Staat.

R.H.: Populismus inszeniert sich als Sprachrohr der Enttäuschten und Zornigen und verspricht einfache Lösungen. Und das funktioniert nur, weil die anderen Parteien der AfD wichtige Themen überlassen, beziehungsweise andere Sichtweisen dazu an den Rand schieben. Das betrifft den Krieg, Genderthemen, Klima-, Coronapolitik und mehr. Diese Themen lösen Ängste in der Bevölkerung aus; diesen muss bewusst begegnet werden. Bevor der Populismus sie instrumentalisieren kann. Doch neben und unter diesen realen politischen Sorgen liegen oft genug auch Erfahrungen von Nichtgehörtwerden, seelischer und physischer Gewalt und Ohnmacht. Um dem zu begegnen, hilft nur eine auch emotional bezogene Kommunikation, die den Teufelskreis der Ausgrenzung aufweichen kann. Wichtig hierbei ist: Kontakt und Beziehung bedeutet keinesfalls Zustimmung. Wir müssen klar „Nein“ sagen können, ohne die Menschen selbst auszugrenzen. Niemand lässt sich überzeugen von Menschen, die er nicht leiden kann.

Wie könnten eure Erkenntnisse in praktische Politik umgesetzt werden? Was braucht es dafür?

C.N.: Keine Politikerin und kein Politiker wird uns aus der Krise „herausregieren“ können, indem er über die Zerrissenheit der Gesellschaft hinwegsieht. Mit der inhaltlichen politischen Arbeit muss die emotionale Arbeit einhergehen. Und das geht am leichtesten mit Formaten wie Bürgerräten. Stellen wir uns solche Elemente in jeder Gemeinde, in jeder Stadt vor. Und zwar immer genau zu jenen Sorgen, die die Menschen wirklich umtreiben. Professionell moderiert, das bedeutet auch emotional bewusst statt reaktiv, bringen sie verbindende demokratische Erfahrungen hervor. Zusammenhalt müssen wir gemeinsam erzeugen. Darum geht es.

R.H.: Kollektive Traumata können nur kollektiv bearbeitet werden. Je psychologisch sicherer sich der Einzelne fühlt, desto stärker wird die demokratische Kultur. Alles mit einbeziehen können, auch das, was man nicht sieht oder sehen kann, bedeutet, die tieferen Schichten der Menschen ernstzunehmen. Nur so bauen wir gesellschaftlichen Stress ab. Emotionen müssen gerade nicht unterdrückt, übergangen oder abgespalten werden, sondern dienen der Verbindung und der Lösungsfindung. Dadurch wird mehr Potenzial fürs Ganze frei.

„Kollektive Traumata können nur kollektiv bearbeitet werden.“

Roman Huber

Beispiel Klimapolitik: Die einen machen Druck und erleben die Apokalypse, die anderen verweigern sich und wollen ihr Leben bewahren, wie es ist. Wie kann der Widerspruch aufgelöst werden, dass wir angesichts der Krisen „keine Zeit“ mehr haben, aber eine Klimawende neben handwerklicher Sorgfalt vor allem auch viel Kommunikation und ein empathisches Mitnehmen der Menschen braucht?

R.H.: Vor Ort wird dies leicht deutlich. Wandel kann man nicht von oben verordnen, Wandel muss auch von unten kommen. Die Kommunen sind die Basis der politischen Arbeit. Sie sind die Grundpfeiler unserer Demokratie. Auch die ganz großen Themen, wie die Anforderungen durch den Klimawandel, müssen am Ende auf kommunaler Ebene beantwortet werden. Nehmen wir das Beispiel Wärme. Jede und jeder von uns wohnt irgendwo und ist deswegen als Besitzerin oder Mieter betroffen. Eine lokale Wärmewende wäre ein zentraler Schritt hin zu einer klimaneutralen Kommune und Gesellschaft. Konkret: Die Dämmung von vielen hunderttausend Häusern kann nur mit und nicht gegen die Menschen gelingen.

C.N.: Erst wenn jede und jeder mitmachen kann, wird es ruckzuck gehen! Wir behindern doch die Umsetzung der Politik nur, weil wir am Spielfeldrand stehen und alles besser wissen. Wenn wir aber selbst auf dem Feld und im Spiel unseren Job machen müssen, versuchen wir, unser Bestes zu geben. Die ersten Gemeinden, Städte und sogar Landesregierungen, wie zum Beispiel Baden-Württemberg, Brandenburg oder Sachsen, beginnen, dieses Prinzip zu erkennen und langsam umzudenken.

Nun ist beim Heizungsgesetz genau das Gegenteil passiert. Es wurde von oben verordnet und hat riesigen Widerstand hervorgerufen. Robert Habeck sagte später selbst: „Was mir in den Knochen steckt, ist, dass ich diesen Moment der gesellschaftlichen Veränderung zu spät gesehen habe. Nach dem ersten Jahr des russischen Kriegs gegen die Ukraine und der Energiekrise, wo alles so irre schnell gehen musste, wo es bei Entscheidungen auf Tage ankam, sind wir im gleichen Tempo weitergelaufen ... Das traf auf eine große Krisenerschöpfung, nach all dem, was die Menschen in den letzten Jahren strapaziert hat – die Pandemie, der Krieg zurück in Europa, die Inflation. Wenn in so einer Phase der Verunsicherung auch noch wild Ängste geschürt werden – da kommt jemand, reißt deine Heizung raus –, wird daraus ein schwieriges Gemisch.“ (ZEIT 9.8.2023) Die Frage für mich ist: Warum hat Habeck das nicht vorhergesehen? Und wie könnte ein Krisenmanagement konfliktbewusster stattfinden?

R.H.: Was in Politik und Demokratie neben schneller Problemlösung immer auch beachtet werden muss, ist die Wahrnehmung des Ganzen. Da scheint Robert Habeck zu sehr in seiner Regierungsblase zu stecken. Sonst wäre dies nicht passiert. Vor lauter „schnell, schnell“ dauert es am Ende viel länger. So eine umfassende Reform verschreckt die Menschen in dem Maße, wie verpasst wird, sie einzubinden. Unsere These auf den Punkt gebracht: Entscheidend ist es, alle Perspektiven mit einzubeziehen und die kollektive Intelligenz aller zu aktivieren. Dies scheint zunächst anstrengender, aber in der Gesamtschau ist für mich sehr klar: Durch die konkrete Beteiligung aller Menschen kommen wir zu besseren und billigeren Lösungen. Am Ende ist es sogar schneller, wenn man den Zeitraum von der ersten Idee bis zur Umsetzung misst.

C.N.: Führungskräfte der Zukunft sind Architekten sozialer Systeme. Dafür brauchen sie spezielle, neu ausgerichtete Fähigkeiten oder auch den Mut, solche Prozesse extern organisieren zu lassen. Mehr Demokratie hat hier eine wichtige Funktion: Wir entwickeln Prototypen! Und in Romans und meinem Buch gibt es ein ganzes Kapitel mit weiteren Vorschlägen.

Wie kann eurer Meinung nach eine Regeneration in Krisenzeiten stattfinden?

C.N.: Resiliente und unabhängige Menschen sind Ankerpunkte einer Gesellschaft. Gefestigte Persönlichkeiten sind vor Manipulation gefeit. Von unserer radikalen Selbstverantwortung und Fähigkeit, uns selbst regulieren zu können, hängt unser Überleben ab! Gesellschaftlicher Zusammenhalt und Stabilität entstehen nicht durch starres Festhalten an alten Errungenschaften, sondern durch Beweglichkeit, die das labile Gleichgewicht immer wieder neu herstellt. Wir müssen innerlich krisenfest werden. Eine zukünftige Kulturkompetenz beinhaltet die Fähigkeit, mit kollektivem Stress, Spaltung und Emotionen auch gesellschaftlich umgehen zu können. Der Zusammenhalt entsteht durch innere Bezüge des Einzelnen zum Ganzen. Nur wer eingebunden ist, wird sich nicht verloren fühlen. Und wer sich zugehörig fühlt, wird den Zusammenhalt nicht gefährden. Das ist die Demokratie der Zuneigung, für die wir uns einsetzen. /

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