Direkte Demokratie ist mehr als eine Abstimmung der Menschen

Orban und Petry schaden der Forderung nach Volksentscheiden

Die vom ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban angekündigte Volksabstimmung über die von der EU festgelegten Flüchtlingsquoten hat nichts mit einem direktdemokratischen Vorgang zu tun, denn allein die Fragestellung ist manipulativ. Dennoch begrüßte die AfD-Bundesvorsitzende Frauke Petry dieses Plebiszit. Das zeigt ihr Demokratieverständnis: Sie strebt nicht wirklich die freie Entscheidung der Menschen an, sondern möchte Plebiszite wie Orban als Mittel zur Bestätigung der eigenen Position verwenden. Von dieser scheinbaren Befürwortung direkter Demokratie grenzt sich Mehr Demokratie deutlich ab.

Ein Kommentar von Tim Weber

Viktor Orban hat am 24. Februar 2016 eine Volksabstimmung über die von der EU festgelegten Flüchtlingsquoten angekündigt. Die Fragestellung soll lauten: „Wollen Sie, dass die Europäische Union auch ohne Zustimmung des Parlaments die verbindliche Ansiedlung von nicht ungarischen Staatsbürgern in Ungarn vorschreiben kann?“ Die AfD-Bundesvorsitzende Frauke Petry begrüßt diese Ankündigung von Orban und versteht es als Ausdruck direkter Demokratie, dass die Menschen befragt werden. Sie führt weiter aus „Die AfD-Fraktion und die Bundespartei haben es sich zum Ziel gesetzt, Volksentscheide auf Bundesebene überhaupt erst möglich zu machen.“ Was Orban vorschwebt, ist eher ein Plebiszit, denn ein direktdemokratischer Vorgang. Er bestimmt die Fragestellung, das Ergebnis der Abstimmung ist nicht verbindlich, es werden falsche Tatsachen vorgespielt, die Abstimmung findet wahrscheinlich nicht unter fairen Bedingungen statt. Wer die Fragestellung formuliert, unterliegt der Versuchung, Einfluss auf das Ergebnis der Abstimmung zu nehmen. Darum ist es wichtig, dass die Frage neutral formuliert ist und jeglicher Verdacht der Beeinflussung vermieden wird.

Natürlich stößt das Wort „vorschreiben“ eher auf Ablehnung gegenüber der EU und weckt Zustimmung zur Fragestellung. Ausgewogener wäre die Formulierung „Sind Sie dafür, dass in Ungarn x Flüchtlinge aufgenommen werden?“ Allerdings stellt sich ohnehin die Frage, ob Ungarn überhaupt per Referendum oder Parlamentsbeschluss Einfluss nehmen kann (nationale Ebene). Denn im Rat der Innenminister wurde über die Verteilung von Flüchtlingen abgestimmt (EU-Ebene). Die Regierung von Ungarn lässt die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung vor dem EuGH prüfen. Sprich, es ist rechtmäßig oder nicht, aber keine Entscheidung für die nationale Ebene Ungarns. Wenn Orban damit ein Problem hätte, dann müsste Ungarn aus der EU austreten, was der "Vertrag von Lissabon" ermöglichen würde. Es mutet aber anmaßend an, die Vorteile der EU (z.B. Subventionen) anzunehmen, jedoch Pflichten (z.B. die Aufnahme von Menschen) abzulehnen. Der Bevölkerung Ungarns wird ein politischer Einfluss vorgespielt, den sie in Wirklichkeit nicht hat. Wir mussten das letztes Jahr auch in Griechenland erleben, als die Regierung Tsipras die Bevölkerung über die Sparauflagen der EU abstimmen ließ, dann aber das deutliche "Nein" letztlich nicht akzeptierte. Wir sehen hier die Nachteile einer von der Regierung oder Präsidenten eingeleiteten Abstimmung. Daher werden solche Vorgänge auch als Plebiszit und nicht als Volksentscheid bezeichnet. Schließlich muss noch beachtet werden, dass in Ungarn die Abstimmung wahrscheinlich nicht unter fairen Bedingungen stattfindet (Zugang zu Medien, Geldmittel) und dass die Abstimmung wahrscheinlich auch nach ungarischem Recht unzulässig ist, weil nur Abstimmungen im Kompetenzbereich des Parlaments zulässig sind.

Direkte Demokratie zeichnet sich dadurch aus, dass Menschen durch Sammlung von Unterschriften eine Abstimmung über Sachfragen einleiten können. Diese Entscheidung ist dann verbindlich und muss umgesetzt werden. Solche Verfahren leben von dem Gespräch und der Fähigkeit, die Meinung des anderen anzuhören und zuzulassen. Sie benötigen auch Zeit. Ein hinreichend langer Zeitraum, mehrere Monate vor einer Abstimmung, ist Voraussetzung für eine Abwägung der Argumente. Wir kennen diese Verfahren auf der Bundesländerebene und vor allem aus der Schweiz. Zusätzlich sind obligatorische Referenden denkbar, d. h. bestimmte Fragen wie Verfassungsänderung müssen zwingend von den Bürgerinnen und Bürgern entschieden werden. Die Einleitung eines Plebiszits á la Orban, weil ein Präsident denkt, über diese Frage sollte einmal abgestimmt werden, findet tatsächlich eher in Diktaturen und autoritären Systemen statt. Wenn dann noch die Mittel in hohem Maße ungleich verteilt sind, dann ist das Plebiszit ein problematisches Instrument, nicht Ausdruck von Freiheit, auf die Demokratie notwendig angewiesen ist. Dass Petry Orban und sein Plebiszit unterstützt, seine Kritiker als „Schmäh-Politiker“ bezeichnet und das Fehlen von Plebisziten/Volksentscheiden als Merkmal „diktatorischer Grundzüge“ sieht, könnte ein Hinweis auf ihr Demokratieverständnis sein. Sie strebt nicht wirklich die freie Entscheidung der Menschen an, sondern möchte Plebiszite wie Orban als Mittel zur Bestätigung der eigenen Position verwenden. Petry scheint es nicht zu stören, dass Orban vor Manipulation nicht zurückschreckt.

Von dieser scheinbaren Befürwortung direkter Demokratie grenzt sich Mehr Demokratie deutlich ab. Man kann mit guten Argumenten für Volksentscheide sein, aber Orbans Vorgehen als undemokratisch kritisieren.

Die Diskussion um Flüchtlingspolitik ist kein Grund, Angst vor Volksabstimmungen zu haben. Mehr Demokratie hat sechs Thesen gegen Ängste vor der direkten Demokratie in Zeiten der Flüchtlingsfrage aufgestellt.

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