Misstrauen Sie den Fegefeuer-Szenarios

Die Experten sind sich einig: Die Iren kommen in die Hölle, wenn Sie den Vertrag von Lisabon ablehnen. Andere sind sich jedoch sicher, dass die Iren als Helden gefeiert werden, wenn sie die "Neins" in Frankreich und den Niederlanden rehabilitieren.

 

Die Panik des Establishments hat neue Höhepunkte erreicht, seit laut der jüngst veröffentlichten Umfrage der Irish Times die Nein-Seite den Vorsprung ausbaut: sie hat jetzt 35%, während erst 30% der Befragten den Vertrag befürworten wollen. Nun wird den Iren erzählt, sie würden in der Hölle schmoren, wenn sie mit "Nein" stimmen. Die Zeit der Fegefeuer-Szenarien ist angebrochen. Den Iren wird jetzt mit Bestrafung und dem Ausschluss aus der Menschheit gedroht, falls sie es wagen sollten, doch mit "Nein" zu stimmen. Bereits jetzt geben "Experten" aller Art solche Statements in internationalen Zeitungen ab.

Die häufigste Behauptung ist zweifellos, dass 26 Mitgliedsstaaten den Vertrag ratifizieren werden. Daher wäre Irland der Spielverderber, das undankbare Kind der Europäischen Union, das den anderen den Spaß verdirbt. Tatsächlich hört sich das im ersten Moment plausibel an. Doch was diese "Experten" gerne vergessen (oder bewusst verschweigen): Wenn Demokratie heute existierte, würden wir nicht einmal über den Vertrag von Lissabon reden, denn er WURDE ja bereits von Wählern in Frankreich und Holland abgelehnt. Oder - anders ausgedrückt: Gäbe es die Demokratie wirklich, würde in allen 27 Mitgliedsstaaten eine Volksabstimmung stattfinden.

Die sogenannten Experten vergessen, dass eine Ratifizierung durch das Parlament nicht bedeutet, dass diese Entscheidung auch tatsächlich vom Volk getragen wird. Überraschenderweise gibt es eine riesige Kluft zwischen der Zustimmung durch die nationalen Parlamente und der Zustimmung in der Bevölkerung. Die Befürwortungsrate des Lissabon-Vertrags liegt in den Parlamenten bei etwa 90 Prozent, die des Volks eher bei 50 Prozent. Weshalb ist das so? Wen repräsentieren die nationalen Parlamente eigentlich? Letztendlich stellt sich die Frage: Wer ist die letzte Instanz in einer Demokratie? Meiner Ansicht nach ist das nach wie vor das Volk.

 

Stimmt Irland also mit "Nein", dann geschieht das stellvertretend für alle Bürger der anderen Mitgliedstaaten, denen eine Stimme verweigert wurde, und es rehabilitiert außerdem die Abstimmungsergebnisse der Franzosen und Holländer. Und glauben Sie mir: Hätte es weitere Abstimmungen gegeben, wären schon 2005 mehr als EIN weiteres Nein herausgekommen. Ich hoffe, die Iren lassen Sie sich nicht von den Höllenszenarien einschüchtern, die man Ihnen auftischt. Ich stimme vollkommen mit einem Journalisten einer großen deutschen Zeitung überein, den ich gestern zufällig traf. Er sagte: Wenn die Iren nein sagen, werden sie von 70% der Europäer als Helden gefeiert und geliebt werden.

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