Überblick über die Änderungen der türkischen Verfassung

Am 16. April wurde in der Türkei über die Änderung von insgesamt 18 Verfassungsartikeln abgestimmt. Die Abstimmung war zwingend vorgeschrieben. Einerseits hatte die Verfassungsänderung im Parlament nicht die notwendige Zweidrittel-Mehrheit erreicht – in diesem Fall hätte der Staatspräsident entscheiden können, ob er abstimmen lassen will. Andererseits wurde die Mindestzustimmung von Dreifünftel der Abgeordneten erreicht, so dass der Entwurf nicht verworfen, sondern den Bürger/innen zur Abstimmung vorgelegt wurde. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und die regierende AKP haben mit dem Referendum eine Verfassungsänderung durchgesetzt, die das politische System der Türkei in ein Präsidialsystem mit weitgehenden Kompetenzen des Präsidenten umwandeln wird. Kritiker bemängeln besonders, dass das in der Türkei angedachte Präsidialsystem, anders als in den USA oder in Frankreich, nicht die „checks and balances“, also die gegenseitige Kontrolle von Verfassungsorganen, beinhaltet: Das Parlament sowie die Justiz werden damit in ihren Kontrollrechten dem Präsidenten gegenüber eingeschränkt.

Ausnahmezustand nach dem Putschversuch

Bereits jetzt herrscht Erdogan wie ein Diktator, der die Politik mit Dekreten nach seinem Willen lenkt. Das deutsch-türkische Webportal taz.gazete zieht eine düstere Demokratie-Bilanz im Sommer 2016: Zehntausende entlassene Beamt/innen, rund 150 Journalist/innen hinter Gittern, Hunderte von Vereinen, Bildungseinrichtungen und Medienbüros geschlossen, noch offene Medienkanäle werden staatlich kontrolliert. Zum Verdächtigen wird jemand zum Beispiel bereits dadurch, dass er oder sie ein Messenger-Programm benutzt, das auch die Putschisten verwendet hatten. Eine Übersicht über die staatlichen Repressionen gibt es hier. Möglich wurde all das, nachdem nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli vergangenen Jahres der Ausnahmezustand ausgerufen wurde.

Anhand solcher Kriterien finden sich in den Untersuchungsakten 105.000 Verdächtige – diejenigen, die in Untersuchungshaft kamen und wieder entlassen wurden, nicht mitgerechnet. Aktuell befinden sich Zehntausende Menschen aus politischen Gründen hinter Gittern. Die Haftbedingungen sind zum Teil menschenunwürdig; so wird der Kontakt zu Angehörigen stark erschwert. (Quelle) Im Rahmen sogenannter Konterguerilla-Aktionen werden mittlerweile ganze Städte in Schutt und Asche gelegt, wie die Anwältin und Menschenrechtsaktivistin Eren Keskin berichtet hat.

Vor diesem politischen Hintergrund sollten die Bürger/innen in einem Referendum über eine Verfassungsänderung entscheiden. Volksabstimmung – das klang so, als könnten die Menschen in der Türkei den Wahnsinn einfach per Kreuz auf dem Abstimmungszettel stoppen. Aber mit (direkter) Demokratie hatte diese Abstimmung im Ausnahmezustand nichts zu tun. Wer öffentlich für ein „Nein“ zur Verfassungsänderung eintrat, geriet ins Radar des Staates und musste mit Verfolgung, Gewalt und Gefängnis rechnen. (Quelle) Eine freie Presse existiert nicht mehr. Es sei derzeit unmöglich, kritische Massenmedien in der Türkei zu betreiben. Stattdessen ist die türkische Medienlandschaft und mit ihr auch die Wissenschaft und Gesellschaft überhaupt stärker denn je von Militarismus, Nationalismus, Sexismus, Rassismus und Regierungstreue dominiert, berichtete der Menschenrechtsaktivist und Journalist Eyüp Burç während eines Kongresses in Basel. Hatte sich bereits 2016 gezeigt, dass schlecht ausgestaltete Abstimmungsverfahren von den Regierenden gekapert werden können, wurde in der Türkei ein „Referendum“ abgehalten, das mit der Souveränität der Bürger/innen, offener Debatte und freier Entscheidung kaum noch etwas zu tun hatte.

1. Worum ging es bei beim Referendum am 16. April?

Präsident Erdogan und die regierende AKP wollten eine Verfassungsreform in Kraft setzen, für die insgesamt 18 Artikel der türkischen Verfassung verändert werden sollen. Hinter dem Begriff „Einführung des Präsidialsystems“ verbergen sich Bestimmungen, die zu einer Entmachtung des Parlamentes und der Justiz führen und die Macht sehr stark in den Händen des Präsidenten konzentrieren würden. Im Januar wurde im Parlament schrittweise über die Änderungen abgestimmt und für alle 18 Artikel die notwendige Mehrheit (Dreifünftel-Mehrheit) von 330 der 550 Parlamentarier/innen erreicht. Die türkische Verfassung sieht für diesen Fall vor, dass die Änderung per Volksabstimmung bestätigt werden muss, um in Kraft zu treten – übrigens mit einfacher Mehrheit der Abstimmenden. Wäre die Verfassung mit einer parlamentarischen Zweidrittelmehrheit geändert worden, dann wäre die Durchführung einer Volksabstimmung im Ermessen des Präsidenten gewesen (Art. 175 der Verfassung). „Das angestrebte Modell ähnelt der Tradition von Staatskonzepten im Nahen Osten. Im asiatischen Despotismus ist der Führerkult vorherrschend. Der Staat ist eine über den Menschen stehende, gnadenlose und beschützende Macht“, fasst der Journalist Aydin Engin zusammen.“ (Quelle)

2. Welche Änderungen bringt Erdogans Verfassungsreform?

  • In Artikel 9 soll festgeschrieben werden, dass die Justiz unparteiisch zu handeln hat.
  • Die Anzahl der Sitze im Parlament soll von 550 auf 600 erhöht werden (Artikel 75).
  • Das Mindestalter, um für das Parlament zu kandidieren, wird von 25 auf 18 abgesenkt, außerdem dürfen Personen mit Bezug zum Militär nicht mehr für eine Wahl aufgestellt werden (Artikel 76).
  • Die Legislaturperiode soll fortan fünf statt vier Jahre dauern, und Parlament und Staatspräsident sollen am selben Tag gewählt werden (Artikel 77).
  • Das Parlament darf in Zukunft keine Minister mehr ernennen, und Minister dürfen keine Gesetze mehr erlassen (Artikel 87).
  • Das Parlament muss sich fortan für parlamentarische Anfragen und Untersuchungen an den Vizepräsidenten wenden, der binnen fünfzehn Tagen antworten muss (Artikel 98).
  • Um als Präsident gewählt zu werden, braucht der potentielle Kandidat den Zuspruch von einer oder mehreren Parteien, die bei der vorherigen Wahl mindestens 5 Prozent der Stimmen erhalten haben, sowie 100.000 Fürsprecher/innen. Der Staatspräsident muss nicht mehr überparteilich sein, sondern darf einer Partei angehören (Artikel 101).
  • Der Präsident wird Staats- und Regierungschef zugleich und ernennt oder entlässt Minister und den Vizepräsidenten. Er kann per Dekret regieren, ohne dass das Parlament zustimmen muss. Allerdings kann das Parlament zu dem jeweiligen Thema ein eigenes Gesetz erlassen, das dann Gültigkeit hat, bis der Präsident seinerseits wieder ein Dekret erlässt (Artikel 104).
  • Sollte der Präsident gegen Gesetze verstoßen, kann das Parlament mit einer Drei-Fünftel-Mehrheit eine Untersuchung einleiten, für eine Anklage benötigt es eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Dasselbe gilt für den Vize-Präsidenten (Artikel 105).
  • In Artikel 106 wird nun geregelt, dass Präsidentschaftswahlen binnen 45 Tagen abgehalten werden müssen, sollte der Posten vakant werden. Sollte bis zur nächsten regulären Wahl weniger als ein Jahr Zeit sein, fallen die Wahl von Präsident und Parlament zusammen - andererseits bliebe der neu gewählte Präsident im Amt, bis wieder beide Termine auf denselben Tag fallen. Außerdem können der Präsident und eine Zweidrittelmehrheit des Parlaments Neuwahlen beschließen (Artikel 116).
  • Der Präsident darf den Ausnahmezustand erklären, der nach Bestätigung durch das Parlament in Kraft tritt. Das Parlament kann den Ausnahmezustand verlängern, verkürzen oder beenden und muss Dekreten des Präsidenten zustimmen (Artikel 119).
  • Militärgerichte sollen abgeschafft werden, mit einer Ausnahme: sie dürfen abgehalten werden, um Taten von Soldaten zu Kriegszeiten zu untersuchen (Artikel 142).
  • Der Oberste Ausschuss der Richter und Staatsanwälte wird von der derzeitigen 22köpfigen Besetzung auf dreizehn Personen reduziert. Vier der Mitglieder werden vom Präsidenten ernannt, sieben vom Parlament. Ein Kandidat wird vom Ausschuss selbst aufgestellt und braucht eine Drei-Fünftel-Mehrheit, um gewählt zu werden. Ständige Mitglieder sind der Justizminister und dessen Unterstaatssekretär (Artikel 159).
  • Der Präsident schlägt dem Parlament ein Budget für das kommende Steuerjahr 75 Tage vor dessen Beginn vor. Das Parlament kann diesen Vorschlag nicht ändern, nur ablehnen. Bei finaler Ablehnung wird das Vorjahresbudget übernommen (Artikel 161).
  • Die Exekutivbefugnisse mehrerer Artikel werden auf den Präsidenten übertragen. Die nächste Wahl von Parlament und Staatspräsident soll am 3. November 2019 stattfinden. Im Fall vorgezogener Wahlen sollen ebenfalls beide am selben Tag stattfinden. Die Änderungen sollen mit der nächsten Wahl in Kraft treten.

Zusammengefasst bezeichnete die Neue Zürcher Zeitung die gesamte Reform als „Machtballung ohne Korrektiv“.

3. Wie kam es zur Verfassungsänderung? Wie ist es zu erklären, 
    dass ein Parlament für die eigene Entmachtung stimmt?

Die islamisch-konservative Regierungspartei AKP verfügt über 316 Sitze im Parlament. Unterstützt wird die Reform auch von einer Mehrheit der ultranationalistischen MHP. Bisher waren alle Oppositionsparteien eindeutig gegen das Präsidialsystem. Mit der MHP hat die AKP jetzt eine Partnerpartei gefunden, deren Abgeordnete zumindest teilweise für die Verfassungsreform gestimmt haben.

Trotz heftiger Proteste der Opposition und tumultartiger Szenen im Parlament hat das Parlament am 21. Januar 2017 der Verfassungsreform in zweiter Lesung mit der notwendigen Dreifünftelmehrheit zugestimmt: 339 Abgeordnete, und damit neun mehr als nötig, stimmten dafür. Für diesen Fall schreibt die Verfassung eine Volksabstimmung vor.

Tatsächlich ist es so, dass türkische Oppositionspolitiker/innen seit Monaten in ihrer Arbeit behindert, bedroht oder sogar inhaftiert werden. Die zweitstärkste Oppositionspartei HDP ist faktisch nicht mehr arbeitsfähig: Die Immunität einiger ihrer Abgeordneten wurde aufgehoben und sie wurden inhaftiert. Ebenso erging es Bürgermeister/innen oder anderen Politiker/innen der HDP. Nach der Verhaftungswelle im November boykottierte die HDP zeitweise die Parlamentsarbeit: "Das Parlament ist funktionslos", lautet ihre Begründung. In einem solchen Klima ist das Parlament in seiner Unabhängigkeit bereits massiv eingeschränkt.

4. Gab es eine „Ja“- und eine „Nein“-Kampagne?

Eine Ja-Kampagne gab es, die Reformkritiker/innen dagegen hatten es in Zeiten des Ausnahmezustands äußerst schwer, sich zu artikulieren.

Reform-Befürworter/innen

Die Regierung sieht den angestrebten Systemwechsel als notwendigen Schritt, um nach dem Putschversuch und in Zeiten des Terrorismus mehr Effizienz, mehr Stabilität und eine einheitliche Führung zu gewährleisten. Befürchtungen, dass die Reform demokratische Kontrollmechanismen beeinträchtige, kontert die Regierung mit dem Verweis auf westliche Präsidialsysteme. Die Reformbefürworter/innen hatten unter anderem die wichtigsten Medien, viel Geld und den gesamten Regierungsapparat hinter sich. Zugleich wurde von der Staatsführung auch außerhalb der Türkei für ein „Ja“ zur Verfassungsreform geworben. 

Reform-Gegner/innen

Die Reformgegner/innen hingegen hatten es enorm schwer. „Der Protest sowohl im Parlament als auch außerhalb auf den Straßen ist […] relativ groß. Allerdings müssen wir davon ausgehen, dass der Protest am Ende nicht erfolgreich sein wird, weil die Regierungspartei AKP auch mit den Methoden, die […] beschrieben wurden, dafür sorgen wird, dass alle Abgeordneten im Sinne der Staatsführung abstimmen“, prognostizierte der Bochumer Politikwissenschaftler Ismael Küpeli am 18. Januar vor der Parlaments-Abstimmung im Deutschlandfunk.

Innerhalb des Parlamentes ist der Streit über die Einführung des Präsidialsystems bereits öffentlichkeitswirksam eskaliert. Vor der Parlamentsabstimmung kam es in der Sitzung zu Handgreiflichkeiten, laut Berichten flogen Stühle und Blumentöpfe – Szenen, wie sie eigentlich in einem Parlament unvorstellbar erscheinen. Zugleich fanden auf der Straße Demonstrationen statt, die allerdings mit Polizeigewalt und Verhaftungen bekämpft wurden.

Eine unabhängige Berichterstattung, in der sachlich über die einzelnen Reformpunkte sowie über Vor- und Nachteile informiert und debattiert wird, gab es nicht. Von einer ausgewogenen Debatte, wie wir sie von Wahl- und Abstimmungskämpfen in funktionierenden Demokratien kennen, mit Plakaten, Diskussionsveranstaltungen und Pro- und Contra-Medienbeiträgen, konnte also keine Rede sein.

Mehr noch: Die Alevitische Gemeinde zu Berlin berichtet von Fällen aus der Türkei, wo Journalist/innen und Lehrenden mit der Kündigung gedroht wurde, falls sie öffentlich kundtun, mit „Nein“ stimmen zu wollen. Fast schon komische Züge bekommt die Aversion gegen das Wort „Nein“ (türkisch: Hayir) nach diesen Berichten in der Stadt Konya: Dort wurden offenbar Plakate und Flyer zur Gesundheitskampagne „Nein zu Zigaretten“ (Sıgaraya Hayır) eingesammelt.

5. Wie geht es jetzt weiter?

Kritische Beobachter/innen inner- und außerhalb der Türkei sorgen sich darum, was denjenigen, die sich öffentlich zu ihrem „Nein“ bekannt haben, droht. In der Alevitischen Gemeinde zu Berlin hält man es nicht für unwahrscheinlich, dass die Zustände in der Türkei viele Menschen aus ihrer Heimat vertreiben – eine der nächsten Fluchtbewegungen könnte aus einem Land kommen, mit dem die Bundesregierung und die EU trotz des fortschreitenden Demokratieabbaus enge Beziehungen unterhalten. Erste Anzeichen dafür gibt es bereits: Die Zahl der Asylanträge aus der Türkei ist seit Herbst 2016 sprunghaft angestiegen.

Quellen:

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