Wahl in den Niederlanden: Wilders hat die Parteienlandschaft nach rechts verschoben
Interview mit Niesco Dubbelboer, von 2003-2006 Abgeordneter im niederländischen Parlament und jetzt Koordinator von Meer Democratie Niederlande. Das Interview führte Sarah Händel.
Wie schätzt du das Ergebnis der Wahl ein?
Niesco Dubbelboer: Es gab eine generelle Bewegung nach rechts, die 4 stärksten Parteien sind in der Mitte oder Rechts von der Mitte einzuordnen. Und es gab eine noch nie dagewesene Zersplitterung: insgesamt 13 Parteien sitzen jetzt im Parlament und selbst die größte Partei kommt nur noch auf 33 Sitze - so wenig hatte die stärkste parteipolitische Kraft noch nie. Die linken Kräfte (4 Parteien) haben insgesamt nur 41 Sitze erhalten, das hatte das niederländische Äquivalent zur SPD bei der letzten Wahl fast noch alleine.
Ja, es ist auffällig, dass liberal-konservative Kräfte besonders stark
abgeschnitten haben. Was ist deiner Meinung nach der Grund dafür?
Es gibt eine weit verbreitete Angst vor Problemen durch Immigration und auch Terror, obwohl es in den Niederlanden noch keinen Anschlag gab, aber das hat viele Leute unsicher gemacht. Die rechteren Parteien geben darauf eine eindimensionale Antwort, die klar bei den Sorgen der Menschen ansetzt. Bei den Linken ist es unklarer und mehr wertorientiert, das ist für die Menschen schwerer zu greifen. Die Rechten sind dort einfach klarer.
Hat der amtierende Ministerpräsident Rutte von seiner harten Haltung betreffend das Auftreten von türkischen Ministern so kurz vor der Wahl profitiert?
Rutte und auch andere Spitzenkandidat/innen hatten sich schon vor der Wahl immer mehr an Geert Wilders Rhetorik angenähert. „Verhaltet Euch normal oder geht“, hatte Rutte in einem öffentlichen Brief in den großen Zeitung in Richtung der Immigranten gesagt. Die Chance, so kurz vor der Wahl gegen die Türkei noch mal richtig harte Kante zu zeigen, das hat ihm sehr geholfen. Bis kurz vor der Wahl stand seine Partei bei knapp 16 Prozent, nun ist sie mit über 21 Prozent stärkste Kraft geworden.
Wie kam diese Zersplitterung auf so viele Parteien zustande?
Ich glaube, dass ganz viele Leute nicht zufrieden sind mit den parteipolitischen Strukturen. Bei diesen Wahlen sind sie mehr ihrem Herzen oder auch ihrem Bauchgefühl gefolgt, als ihren sonstigen Wahlgewohnheiten. Deswegen bin ich so ein großer Fan von direkter Demokratie, weil es damit möglich ist, die Menschen öfter nach ihrer Meinung zu konkreten Plänen zu fragen. Die parteipolitischen Strukturen sind in gewisser Weise altmodisch, denn die Menschen binden sich nicht mehr fest. So entstehen ganz viele Nischen, die dann Parteien besetzen, die die Leute in dem Moment der Wahl ansprechen. Aber das kann sich ja ganz schnell ändern in einer Zeit von 4 Jahren. Hier könnte die direkte Demokratie das System empfindlicher machen und diese großen Verschiebungen im Parteiensystem durch themenbezogene Abstimmungen etwas ausgleichen.
Geert Wilders hatte sich mehr erhofft, aber er ist trotz allem zweitstärkste Kraft. Wie ist das Phänomen Wilders zu erklären?
Er versteht es, anti-elitäre und anti-politische Gefühle geschickt anzusprechen. Er kann diese Gefühle am klarsten in Worte übersetzen, immer mit der Botschaft: “Die machen nur was für sich und nicht für uns“. Inhaltlich setzt er massiv auf die Ängste vor dem Islam, vor Migration und dem Verlust von Identität. Außerdem ist er ein sehr guter Redner, das macht ihn attraktiv. Teilweise hat er in den Umfragen stark geführt. Doch manche Wähler waren jetzt wohl enttäuscht, dass er sich so wenig an den offiziellen Debatten zur Wahl beteiligt hat. Meiner Meinung nach war das eine Miskalkulation seinerseits. In seinem Anti-Establishment-Gefühl hat er entschieden, sich nicht zu beteiligen, sondern nur zu twittern. Dazu kommt auch, dass die niederländischen Medien nicht mehr so viel Interesse hatten, über ihn zu schreiben, da er sie oft beleidigt und sich unkooperativ verhält. Er hat viele Interviews in ausländischen Medien gegeben, aber verhältnismäßig wenige in holländischen, und so erreichst Du natürlich nicht deine Wähler/innen!
Du hast zusammen mit Wilders im Abgeordnetenhaus gesessen,
was sind deine persönlichen Erfahrungen mit ihm?
Erstmal, um ganz klar zu sein: Wir saßen zwar zusammen im Parlament, aber waren politische Gegner. Trotzdem muss ich sagen, dass er ein absolut begabter Redner ist - mit viel Humor. Er hat großes politisches Talent. Er war gut darin, Medienaufmerksamkeit zu bekommen, indem er griffige Slogans entwickelt hat und kam damit lange Zeit gut an, weil immer wieder etwas Neues kam. Zum Beispiel seine Forderung nach einem Verbot des Koran und einer Steuer auf Kopftücher, die seiner Meinung nach das Straßenbild beschmutzen. „Kopvodden-tax“ in etwa: Kopflumpen-Steuer, hat er das genannt. Aber vor diesen Wahlen hat er nichts mehr schockierend Neues gebracht. Und die Leute verstehen immer besser, dass das alles nur Solgans sind, die gar nicht umsetzbar sind. Im 1 zu 1-Duell mit Rutte hat der ihn gefragt: „Und, wie willst Du das machen, den Koran verbieten? Willst Du von Haustür zu Haustür gehen mit einem Polizisten? Wilders hatte darauf keine Antwort. Ein gewisser Entlarvungsprozess findet also statt. Aber trotzdem sehen wir ganz eindeutig: Die Rhetorik und Themen von Wilders sind in die Mitte der Gesellschaft gerückt und die anderen Mitte-Rechts-Parteien haben davon profitiert, dass sie sie aufgenommen haben. Rechte Positionen sind jetzt salonfähig.
Ist der Anti-Islamismus Wilders also größtenteils politisch geschickte Strategie?
Ich würde sagen: Nein, auf jeden Fall nicht nur. Was nicht so bekannt ist: Wilders Anti-Islam-Kurs hat seine Wurzeln ganz stark in einer Pro-Israelischen Haltung. Er hat als Jugendlicher in einem israelischen Kibbuz gelebt und ist im Parlament immer dafür eingetreten, dass wir mehr für Israel machen müssen, dass wir viel mehr Empathie haben müssen. Er sah es als seinen Auftrag, das klar zu machen. Er provoziert andauernd die muslimische Gemeinschaft, indem er sagt, dass wir keine Ahnung hätten, was Israel auszuhalten hat. Sein Anti-Islam-Kurs ist also nicht nur politische Strategie, sondern er ist selbst authentisch gegen den Islam und die Gefahren, die seiner Meinung nach von ihm ausgehen - das können die Menschen spüren. Am Anfang war das auch ein Problem, als Jean-Marie Le Pen noch an der Macht war, der war ganz klar antisemitisch und antiisraelisch. Jetzt wo Marine Le Pen übernommen hat, kommen vom Front National keine antisemitischen Klänge mehr und es besteht jetzt eine enge Zusammenarbeit zwischen ihr und Wilders.
Besonders außergewöhnlich ist, das Wilders das einzige
Mitglied seiner Partei ist, wie kann das gehen?
In den Niederlanden sind die Parteien und ihre Organisation nicht in der Verfassung verankert. Deswegen ist es rechtlich möglich, dass Wilders das einzige Mitglied seiner Partei ist und alles selbst entscheiden kann. Dafür, dass das so bleibt, verzichtet er sogar auf staatliche Finanzierung von ca. 1 Millionen Euro im Jahr, denn die gibt es erst für Parteien ab 1.000 Mitgliedern.
Da überrascht es auch nicht, dass das Wahlprogramm Wilders auf eine DIN A4 Seite passt, angereichert mit ziemlich haltlosen Summen, was es kosten wird, zum Beispiel das Rentenalter wieder auf 65 Jahre zu senken.
Ja, daran sieht man, dass die Inhalte bei den Wahlen immer weniger eine Rolle spielen. Wilders setzt seine Themen, ohne zu erklären, wie er seine Ziele erreichen will. Er macht sich nicht die Mühe, andere Felder überhaupt anzusprechen oder in Zusammenarbeit mit anderen eine umfassende Vorstellung zu entwickeln, wo die Niederlande hinwollen. Wenn Wahlen immer weniger mit Inhalten zu tun haben, dann braucht es die direkte Demokratie, um den Bürger/innen dann Mitsprache zu ermöglichen, wenn die Themen auf die Agenda kommen.
Gibt es auch einen Gegenpart zu Wilders?
Wenn es einen Gegenpart gab, dann ist es Jesse Klaver von Groenlinks (Grünlinks). Er hatte auch eine klare Botschaft, die aber voller Hoffnung war und ein positives, integratives Gesellschaftsbild und ein gemeinsames Europa vermittelt hat. Er hat es geschafft, eine Bewegung anzufangen, die weit über die Partei hinausging, es gab Versammlungen mit 5.000 - 10.000 Leuten, das hat sonst niemand geschafft. Das Ergebnis von Grünlinks war dann auch das beste Ergebnis in der Geschichte der Partei, mit 9 Prozent haben sie sich im Vergleich zur letzten Wahl verdreifacht. Aber trotzdem konnten sie die Stimmung nicht umdrehen, eine Mehrheit der Menschen hat eine andere Perspektive gewählt.
Wie geht es jetzt in den Niederlanden weiter?
Jetzt werden Koalitionen verhandelt. Die 3 moderateren rechts-konservativen Parteien - der amtierende Ministerpräsident Rutte mit der Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VDD), Democraten 66 (D66) und Christlich-Demokratischer Aufruf (CDA) - sind jetzt sehr stark, haben aber ohne Wilders noch keine Mehrheit, die brauchen noch eine vierte Partei dazu. Das könnte die ChristenUnion (CU) sein, die 5 Sitze erhalten hat - dann hätten sie eine Mehrheit. Es kann aber auch sein, dass die Sozialdemokraten noch mal mitmachen - was aber seltsam wäre, in Anbetracht der harten Abstrafung, die sie bei dieser Wahl erhalten haben. Auch Groenlinks hat vor der Wahl gesagt, dass sie nicht dafür zu haben sind, eine rechtskonservative Regierung möglich zu machen. Das wäre auch ein bisschen Selbstmord.
Was bedeutet das alles für die direkte Demokratie?
Kommt die wahrscheinlichste Variante 1, ist es leider so, dass drei der dann regierenden Parteien sich nicht für die direkte Demokratie stark machen, die D66 ist dann als einzige dafür. Es gibt dann zwar immer noch eine absolute Mehrheit im Parlament für die direkte Demokratie (insgesamt haben die Parteien, die direkte Demokratie in ihrem Programm haben, 90 der 150 Sitze). Aber es könnte gut sein, dass die Regierung versucht, einen Vorstoß zu machen, zum Beispiel Europathemen von Abstimmungen auszunehmen oder die Hürden wieder anzuheben. Das wäre besonders bitter, weil wir ja vorhaben, einen Referendums-Antrag gegen die Ratifizierung des CETA-Abkommens zu starten, sobald unser Parlament dazu einen Beschluss gefasst hat.
Was sind Eure nächsten Schritte?
Nächste Woche wird es eine Aktion von uns im Parlament geben. Wir werden eine Protest-Aktion „Don't forget about us“ starten und übergeben eine CETA-Referendum-for-Dummies-Broschüre. Die Botschaft: Die Abgeordneten können jetzt nicht Europathemen ausschließen, wo doch schon 200.000 Menschen eine Petition unterschrieben haben und nur darauf warten, dass wir loslegen können mit dem Unterschriften sammeln für ein Referendum zu CETA - die Menschen wollen bei so einem wichtigen Thema mitreden!
Danke Niesco, wir drücken Euch die Daumen!
Die Niederlande weisen bislang eine Volksabstimmung auf nationaler Ebene auf: Im Jahr 2005 fand eine unverbindliche Volksbefragung zur Verfassung der Europäischen Union statt. Debatten um mehr direkte Bürgerbeteiligung flammten immer wieder auf und so wurde 2015 ein unverbindliches fakultatives Referendum eingeführt. Dieses Länderprofil gibt einen kurzen Überblick über die Regelungen und Praxis.