Die Politik kommt aus den Menschen

Seit dem 15. Mai gehören Proteste zum Alltag Spaniens. Mehr Demokratie hat mitManuel Marín-Ramos, Teilnehmer der Bewegung Democracia Real YA! Berlin, über die Demonstrationen gesprochen.

 

Mehr Demokratie: Um was geht es bei den Protesten in Spanien?

Manuel Marín-Ramos: Die Bewegung M 15 (sie heißt so, weil die ersten Proteste am 15. Mai waren) ist durch die Jugend Spaniens geprägt, vereint aber auch alle anderen Gesellschaftsschichten. Die Menschen empfinden etwas als ungerecht und gehen dagegen auf die Straße. Das erinnert mich an die Massenproteste im Jahr 2003 gegen die Teilnahme Spaniens am Irak-Krieg. Diese Proteste waren ein Wendepunkt in der politischen Kultur Spaniens. Die Menschen haben unabhängig von ihrer sozialen, ökonomischen und politischen Herkunft gegen etwas protestiert, das sie als ungerecht empfanden. Spanien zog dennoch in den Irak-Krieg und 2004 folgte dann der große Anschlag in Madrid, bei dem viele Menschen starben.

Zwar ist mit den Demonstrationen 2003 der Damm gebrochen. Heute geht es aber um andere Inhalte. Es geht gegen die Ungerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt, gegen Korruption und Fremdbestimmung, gegen Clientalismo und Amigismo, wie wir in Spanien sagen. Es geht um Chancengleichheit, wirtschaftliche Perspektive und nicht zuletzt um eine Reform des politischen Systems, um politische Teilhabe und Selbstbestimmung.

Welchen Ausweg siehst Du?

Erst einmal muss die Politik stärker kontrolliert werden. Einkünfte und Vermögen der Politiker müssen transparenter sein. Politik muss sich entfernen vom faulen Apfel der Korruption. Sie muss so sauber sein, wie es nur geht. Politiker verwalten die Res-Publica, die Sache der Allgemeinheit. Um ihren Job gut zu machen, müssen sie einen gewissen ethischen Standard erfüllen. Ein Bäcker muss gutes Brot backen, ein Mechaniker muss das Auto gut reparieren und ein Politiker soll soundsoviele Stimmen repräsentieren. Das ist seine Aufgabe.

Ganz persönlich denke ich, ein Politiker sollte sich opfern. Wir brauchen Politiker nur als repräsentative Werkzeuge, weil das System so effektiver ist. Aber die Politik kommt aus den Menschen selbst, aus allen Menschen. Du und ich, wir können Politik machen.

In den ersten Tagen der Bewegung in Spanien dachte ich, sie fordern eine Abschaffung jeglicher Repräsentation. Dann bewegten sich die Diskussionen hin zu einer bedingten Repräsentation. Nun geht es um eine Repräsentation mit mehr Partizipation. Direkte Demokratie, Bekämpfung der Korruption, Kontrolle der Politik, eine Reform des Wahlrechts sind hier die Schlagworte. Die Politik ist gelähmt durch das Zwei-Parteien-System, durch das seit 33 Jahren keine frische Luft fegte. Es fängt an zu stinken.

 

Wie funktioniert diese Bewegung, was findet konkret statt?

Sie ist ein großes Unternehmen einer Gesellschaft, bei dem keiner weiß, wie es geht. Aber die Bewegten haben keine Angst. Denn die Alternative zum Aufstehen wäre das, was es jetzt gibt, das wollen sie nicht mehr. Konkret gibt es viele Gesprächskreise, Plenen, wo darüber diskutiert wird, was sich ändern soll. Und die Demonstrationen und Zeltlager. Zentral ist aber die Kommunikation. Kommunikation ist alles. Die Leute kommen miteinander ins Gespräch. Nicht wie in einer Diktatur, die die Kommunikation zwischen den Menschen kappt. Leute reden miteinander. Mit mehr Mut und mehr Respekt.

 

Wären die Leute nicht enttäuscht, wenn keine konkreten Reformen herauskommen?

Aus der Kommunikation können nur Lösungen erwachsen. Die Lebensumstände müssen Thema sein. In erster Linie geht es darum, ein Netz von horizontaler Kommunikation zu schaffen. Etwas zu bewegen ist aber auch eine Frage des Glaubens. Wichtig ist, an das Jetzt zu denken. Der Gedanke an die Zukunft, an die Unmöglichkeit von Veränderung, macht die Bewegung kaputt, bringt Fatalismus und den Tod der Ideen. Ich glaube, in den vielen Gesprächen in den Plenen geht es eigentlich immer um Eines: nie wieder enttäuscht zu werden. Das ist ein starkes Gefühl bei den Menschen. Es ist wichtig, dass sie begreifen, dass sie politische Menschen sind. Der erste Kampf geht immer gegen Dich selbst, um Dich von der Mentalität zu befreien, die Du so viele Jahre geschluckt hast. Man darf keine Angst haben. Es hilft, sich klar zu machen: Seit der Franco-Diktatur hat sich schon viel getan. Durch das, was jetzt passiert, ändern sich die Werte, die Prioritäten. Und das ist auch in der Vergangenheit schon passiert, zum Beispiel beim Thema Umwelt. Das funktioniert nur, wenn Proteste gewaltlos sind.


Stichwort Gewaltlosigkeit, wie reagiert der Staat?

Die Räumung des Platzes Catalunya in Barcelona vergangene Woche ist ein gutes Bespiel. Die Polizisten kommen dort hin, provozieren, aber es entsteht keine Gegengewalt. Die Demonstranten haben sich schlagen lassen, ohne selbst zu schlagen. Und danach sind noch mehr Menschen auf den Platz gekommen. Und selbst Konservative waren vom Vorgehen der Polizei schockiert. Es entwickelt sich gerade ein neues Denken in Spanien, ein neues Paradigma. Politiker können ihre alten Tricks nicht mehr anwenden.

 

Haben die Politiker Angst vor dieser Bewegung?

Die Politiker merken schon, dass ihnen hier etwas aus dem Ruder läuft, sich ihrer Kontrolle entzieht. Die regierenden Sozialisten beteuern ihr Verständnis für die Gründe der Bewegung, finden aber die Art nicht akzeptabel. Die Konservativen tun das Geschehen mit schnellem Blick ab, als schwarzer Block, als Anti-System-Bewegung. Aber auch die Parteien müssen den Wandel annehmen und nach neuen Regeln spielen. Es geht um Evolution, nicht um Revolution.

 

Wie gehen die Medien mit den Protesten um?

Die Medien waren, wie auch die Politik, zu Anfang total orientierungslos. Sie wollten über die Ereignisse berichten, wussten aber nicht wie. Als erstes fragten sie nach dem Anführer, dem Sprecher. Den gibt es aber nicht. Jeden Tag gibt es Plenen bei denen immer wieder andere Ergebnisse herauskommen. Es gibt kein eines Programm, keinen einen Ansprechpartner. Das hat die Medien sehr irritiert. Sie konnten mit diesem Phänomen nichts anfangen, da diese Bewegung nicht so funktioniert, wie die Medien arbeiten. Das merkt man auch an der Sprache. Die „Empörten“, das ist eine Kreation der Medien. Und es klingt mehr nach Opfer, als nach kräftiger Bewegung.

 

Wie breit verankert sind die Proteste in der spanischen Gesellschaft?

Eine kleine Minderheit campt auf der Straße. Eine größere Minderheit nimmt an den Plenen im ganzen Land teil. Und eine noch größere Minderheit, oder sogar eine Mehrheit, sympathisiert mit den Protestierenden.         

Aber das Fundament einer gesellschaftlichen Transformation ist die Bildung. Und zwar die Form nicht die Inhalte. Zum Beispiel in Schulen. Wie geht es, das miteinander kommunizieren auf gleichberechtigter Ebene, das gemeinsam Lösungen finden? Darauf kommt es an.

Lynn Gogolin, 07.06.2011

 

Mehr Informationen:

Website der Bewegung Democracia Real YA! Berlin

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