Der Volksentscheid für ein Klimaschutzgesetz in der Schweiz

Von Marcel Hänggi

Während sich in Deutschland die Stimmung gegen die Klimapolitik der Regierung und innerhalb der Bevölkerung aufheizt, entscheidet sich die Schweiz mit einem Volksentscheid für ein neues Klimaschutzgesetz. Am 18. Juni wird es mit 59,1 Prozent der Stimmen angenommen. Marcel Hänggi war der Initiator der vorausgegangenen Gletscherinitiative. Er reflektiert in diesem Text sein eigenes Engagement und den Erfolg und die Grenzen der Volksinitiative. Ende 2015 verkündete die Bundesrätin Doris Leuthard auf der Klimakonferenz COP21 in Paris, die Schweiz werde sich für die Begrenzung der Klimaerwärmung auf 1,5 Grad einsetzen.
„Paris“, schrieb ich damals, „ist ein immenses Versprechen. Jetzt gilt es, das Versprochene einzufordern. Jetzt beginnt die große Arbeit.“ Ein halbes Jahr nach der COP21 schlug ich deshalb vor: Lancieren wir eine Volksinitiative! Aus dem Vorschlag wurde die Gletscherinitiative und aus dieser das Klimaschutzgesetz. Die „große Arbeit“ hat mich siebeneinhalb Jahre lang beschäftigt.

Hat sie sich gelohnt?

Ja.

Hat sich das Instrument der Volksinitiative als tauglich dafür erwiesen, in einer existenziellen Krise Antworten zu finden?

Da muss ich ausholen.

Die Initiative

Klimapolitik ist im Grunde entwaffnend einfach: Wir müssen aufhören, Treibhausgase zu emittieren. Und das heißt vor allem: aufhören, Erdöl, Erdgas und Kohle zu verbrennen. Mehr Erneuerbare? Gewiss, aber als Mittel, nicht als Zweck. Wenn man die erneuerbaren Energien zusätzlich zu den fossilen verbraucht, bringen sie dem Klima nichts.

2018 gründeten 80 Personen den Verein Klimaschutz Schweiz als Trägerverein. Ende April 2019 lancierten wir die Gletscherinitiative, und im November reichten wir sie mit 113.000 Unterschriften ein. Mit dem Umweltrechtler Heribert Rausch habe ich den Initiativtext erarbeitet. Dessen Kern war, neben dem Netto-null-Emissionsziel, das Verbot fossiler Energien ab 2050. Gleichzeitig bauten wir unser Netzwerk auf: Tausende, die sich über mehrere Jahre für das Anliegen engagierten. Diese Basis war ein wesentlicher Grund, warum das Klimaschutzgesetz angenommen wurde.

Als wir im März 2018 erstmals in die Medien gelangten, war der mediale Tenor: eine radikale Initiative! „Brandgefährlich“ nannte sie Economiesuisse (einer unserer späteren Partner). Als ich jedoch Ende 2018 erstmals im Bundeshaus war, staunte ich, wie viele Nationalräte und Nationalrätinnen geradezu begeistert reagierten. Ich konnte FDP-Ständerat Noser für das Initiativkomitee gewinnen: ein erster Mediencoup. Mit einem prominenten Freisinnigen als Unterstützer einer Initiative, die etwas verbieten will, hatten die Medien nicht gerechnet. Am Ende unterstützten die Freisinnigen das Klimaschutzgesetz mit großer Mehrheit.

Die parlamentarische Phase

Der Bundesrat (die Bundesregierung mit sieben Ministerinnen und Ministern) machte schließlich einen direkten Gegenvorschlag, der den Text der Gletscherinitiative übernahm, aber sein Herz, das Verbot fossiler Energien, amputierte. Im Oktober 2021 nahm die Umweltkommission des Nationalrats (eine Kammer des Parlaments) ihre Beratungen auf. Die Kommission erarbeitete einen eigenen, indirekten Gegenvorschlag: das Klimaschutzgesetz, über das wir nun abgestimmt haben.

Initiatorinnen und Initiatoren einer Volksinitiative haben von Gesetzes wegen nur drei Aufgaben: Sie verfassen den Text, sie sammeln die Unterschriften und sie entscheiden über einen allfälligen Rückzug. In Wirklichkeit ist die schweizerische Demokratie eine ausgeprägte Verhandlungsdemokratie. So wirkten wir denn im Hintergrund an der Entstehung des Gegenvorschlags stark mit. Ich erlebte diese Phase als konstruktiv; wir arbeiteten gut mit Politikerinnen und Politikern aller Parteien außer der rechtspopulistischen SVP zusammen. Einzig das Fossilenergieverbot war nicht vermittelbar. Unsere Politikverantwortliche Michèle Andermatt und ich, wir trugen Ideen der Politikerinnen und Politiker zu den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und deren Kritik zurück zur Politik. So entstand das Konzept der Netto-null-Fahrpläne und der Innovationsförderung. Es reflektiert (wie auch neue Klimagesetze der USA, der EU oder Indiens) einen Paradigmenwechsel der empirischen Klimasozialwissenschaften. Diese haben in den letzten Jahren gezeigt, dass eine aktive Innovationspolitik bessere Resultate bringt als eine Lenkungsabgabe, die laut neoklassischen Ökonomielehrbüchern das ideale Instrument sein müsste.

Nicht leicht fiel es mir, das Fossilenergieverbot aufzugeben. Wenn man etwas loswerden will, ist ein Verbot meines Erachtens gerade aus freiheitlicher Sicht der beste Weg. Aber immerhin schreibt das Klimaschutzgesetz, das wir am 18. Juni angenommen haben, vor, dass seine Ziele und Zwischenziele so weit als „möglich“ und „wirtschaftlich tragbar“ durch Emissionsminderungen im Inland erreicht werden müssen. Bei aller Unschärfe: Im Kern ist das Klimaschutzgesetz ein Bekenntnis zum Ausstieg aus den fossilen Energien.

Der Abstimmungskampf

Aber nichts von dieser Kernidee blieb in der öffentlichen Debatte im Abstimmungskampf. Gestritten wurde, wieder einmal, um das Mehr: darum, wo denn nun der Strom herkomme, den man mit der Dekarbonisierung des Energiesystems zusätzlich braucht, und was das kostet. Diese Auseinandersetzung brachte manche Ernüchterung:

  • Erstens: Unsere Gegnerin, die SVP, fuhr eine massive Desinformationskampagne.
  • Zweitens: Komplexe Botschaften lassen sich im Abstimmungskampf kaum vermitteln. Schon dass mit der Energiewende der Strombedarf zu-, der Gesamtenergiebedarf aber abnehmen wird, war schwierig verständlich zu machen.
  • Drittens: Als Journalist habe ich immer versucht, allgemein geteilte feste Denkmuster zu durchbrechen. In einem Abstimmungskampf geht das nicht. Wenn die SVP Panik vor einer katastrophalen „Stromlücke“ schürt, muss man die Ängste beschwichtigen und kann nicht gut fragen: Brauchen wir denn überhaupt so viel Energie?
  • Viertens: Themen, die im Zusammenhang mit der Klimakrise wichtig wären, blieben in der Debatte außen vor; auch wir pushten sie nicht. Alles, was wir sagten, musste für unsere breite Koalition von grün bis freisinnig akzeptabel sein. Klimagerechtigkeit, Suffizienz oder gar die Notwendigkeit systemischer Veränderungen waren kein Thema. Wir betonten, dass das Klimaschutzgesetz keine Verbote enthält.
  • Fünftens: Die Medien berichteten mehrheitlich wohlwollend über das Klimaschutzgesetz. Doch auch wenn sie es wohlwollend taten, taten sie es in dem von der SVP gesetzten Rahmen: Man sprach über die angeblich drohende „Stromlücke“. Und vor allem sprach man über Kosten – die (angeblichen) Folgekosten des Gesetzes, nicht aber die Kosten des Status quo. Noch nach der Abstimmung fragte RTS (der französischsprachige öffentlich-rechtliche Rundfunk): „Was ändert sich durch das Klimagesetz für Sie? (...) Auf was muss man verzichten?“, und nicht etwa: „Was gewinnen wir?“.

Fazit und Ausblick

Die Schweiz hat sich als erstes Land in einer Volksabstimmung zum Netto-null-Emissionsziel bekannt. 59 Prozent sind ein schöner Erfolg und deblockieren die schweizerische Klimapolitik. Die große Arbeit hat sich gelohnt.

Es bleibt aber bei mir das ungute Gefühl, mein Engagement könnte zum Glauben beigetragen haben, mit dem Klimaschutzgesetz hätte die Schweiz ihre Schuldigkeit getan. Ich hatte in den letzten Monaten manchmal das Gefühl, in zwei Welten zu leben: hier die alarmierenden Berichte zur Klimakrise, da das Klein-Klein des Abstimmungskampfs.

Es stellt sich die große Frage, wie man Mehrheiten findet, wenn Klimapolitik nicht mehr daherkommt „wie ein Schlagersong: gefällig und schmerzfrei“. Früher oder später wird nichts an der Erkenntnis vorbeiführen, dass wir im Globalen Norden mehr Ressourcen verbrauchen, als uns zustehen. Wie lässt sich eine solche Erkenntnis demokratisch verhandeln?

In einer Abstimmungsdemokratie, wie ich sie erlebt habe, vermutlich nicht. Gemeinden und Kantone mit ambitionierteren Klimazielen weisen den Weg. Ein besonders interessantes Beispiel ist die Glarner Landsgemeinde. (Die gesetzgebende Versammlung aller stimmberechtigten Bürgerinnen und Bürger des Kantons Glarus. Neben dem Stimmrecht besitzt jeder auch das Recht, das Wort zu einer Vorlage zu ergreifen und Abänderungsanträge zu stellen.) Der Kanton hatte sowohl das Klimaschutz- wie auch das CO2-Gesetz abgelehnt. Zwischen den beiden Abstimmungen folgte die Glarner Landsgemeinde aber einem Antrag aus der Klimabewegung und verabschiedete ein ambitioniertes Energiegesetz samt Öl- und Gasheizungsverbot.

Wie war das möglich? Die NZZ schrieb: „Die Glarner tun sich noch am Tag nach der Abstimmung schwer, das Passierte zu erklären. Die Rede ist von ‚Landsgemeinde-Psychologie‘. Davon, dass ‚das eben Landsgemeinde‘ sei. Dass gewisse Dinge nur hier geschähen, im Ring, wo die Demokratie nicht nur eine direkte, sondern eine unmittelbare ist."1

Während man sich in der Urnendemokratie jeder Diskussion verschließen kann, um am Ende doch „Nein“ auf den Zettel zu schreiben, weil man persönliche Nachteile befürchtet oder jede Veränderung ablehnt, verlangt die Landsgemeinde ein minimales Engagement: Man muss sich persönlich auf den Landsgemeindeplatz begeben und den Voten zuhören. Das ermöglicht immer wieder Entscheide außerhalb dessen, was im normalen Politgeschäft liegt.

In einer Demokratie müssen alle mitbestimmen können, die das wollen. Wer von einer Sache, über die zu entscheiden ist, nichts versteht, hat ein Anrecht darauf, dass man es ihr oder ihm erklärt. Aber warum sollen auch Bürgerinnen und Bürger mitentscheiden, die gar nicht verstehen wollen?

Ich weiß nicht, wie die Demokratie aussehen muss, die mit existenziellen Krisen umgehen kann. Vielleicht sind Bürgerräte eine Lösung, in denen für die Gesamtbevölkerung repräsentativ ausgewählte Menschen sich intensiv mit einem Thema auseinandersetzen und Maßnahmen vorschlagen. Mehrere Staaten weltweit und auch Schweizer Gemeinden wie etwa die Städte Uster oder Prilly haben geloste Klima-Bürgerversammlungen durchgeführt. Weil sie gut informiert sind, heißen die Versammlungen auch Vorschläge gut, die im normalen Politbetrieb als zu radikal gälten und deshalb keine Chance hätten.Wie viel solche Versammlungen taugen ist umstritten. Aber die Umweltkrise fordert die Gesellschaft jenseits dessen heraus, was bisher als normal gilt. Wir werden auch die Normalitäten unserer demokratischen Entscheidungsfindung überdenken müssen. /

Quelle: 1) www.nzz.ch/schweiz/klimapolitik-das-wunder-von-glarus-ld.1644230

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