Jamaika geplatzt – Was kommt nach dem „Knall“?
Claudine Nierth (CN), Vorstandssprecherin, und Ralf-Uwe Beck (RUB), Vorstandssprecher von Mehr Demokratie, zur aktuellen politischen Lage.
Interview: Anne Dänner (AD)
1. AD: Die Jamaika-Koalition ist geplatzt. Für viele war das ein Schock, zumindest eine Überraschung. Mehr Demokratie war ja in engem Kontakt zu den Sondierenden. Woran ist es denn nun gescheitert?
CN: Wenn ich den Verhandlungsführer/innen aller vier Parteien zuhöre, sind die Sondierungsgespräche weniger am inhaltlichen Dissens gescheitert, sondern vor allem am fehlenden Vertrauen und an der Art der Verhandlungsgestaltung und Moderation. Zu große Gruppen am Beginn des Prozesses, zu wenig Vertrauen untereinander, zu wenig Mediendisziplin, (Tweets während der Verhandlungen usw.). Das heißt, eigentlich hätten die vier Verhandlungspartner/innen erfahrener, neutraler Prozessbegleiter/innen, Moderator/innen oder gar Mediator/innen bedurft, um am Ende zu einem gemeinsamen Vertrag zu kommen. Hier kann die Politik von der Wirtschaft lernen, die damit längst arbeitet. 70 Prozent der Kommunikation findet auf der emotionalen Ebene statt, und genau auf diesem Gebiet ist Jamaika ins Straucheln gekommen. Vertrauen, Respekt und einander zu kennen sind der Schlüssel zum gemeinsamen Regieren, das zeigt die Jamaika-Koalition in Schleswig-Holstein.
RUB: Jamaika hätte helfen können, aus den Filterblasen der einzelnen Parteien, aber auch der gewohnten Koalitionen herauszukommen. Die Parteien haben sich ja bereits während der Sondierung thematisch erweitert. Das durchbricht Denk-Tabus und holt mehr Lösungsoptionen in den Diskurs. Angela Merkel hat das nach dem Abbruch honoriert, indem sie anmerkte, sie habe viel dazugelernt. Ansonsten ist Macht ja, wie der Politikwissenschaftler Deutschmann meinte, das Privileg, nicht mehr lernen zu müssen.
2. AD: Wie geht es jetzt politisch weiter? Neben Neuwahlen wird auch über eine Minderheitsregierung debattiert. Was sagen die Sprecher/innen des Vorstandes von Mehr Demokratie dazu?
RUB: Die Diskussion um die Minderheitsregierung offenbart die Sehnsucht vieler Menschen nach einer wirklich sachorientierten Politik. Viele Bürgerinnen und Bürger, aber auch Politiker/innen selbst, empfinden die Rituale zwischen Opposition und Regierung ermüdend und langweilig. Das umso mehr, als die Idee, die Opposition möge der Regierung den Spiegel vorhalten, die dann in sich geht und so näher an den Interessen der Menschen entscheidet, längst unterlaufen ist. Praxis ist doch eher, Kritik von der Opposition schon deshalb nicht an- noch weniger aufzunehmen, nur weil es von der Opposition kommt. Selbst Politiker/innen reden plötzlich despektierlich vom „Durchregieren“. Das wirft auch ein Licht darauf, was wir von Koalitionsverträgen zu erwarten haben: Nicht mehr als da aufgeschrieben ist und oft nicht einmal das.
CN: Ob Neuwahlen, GroKo, Minderheitsregierung oder nochmal Jamaika – im Grunde eine Frage, die nur die Wähler/innen entscheiden können. In einem Volksentscheid mit der Frage: „Was wollt ihr denn jetzt?“ Klar, das geht jetzt nicht, es fehlen die Voraussetzungen dafür. Ich bin einer Minderheitsregierung gegenüber sehr aufgeschlossen, da sie vor allem Sachdiskussionen fördert, Sachallianzen schmiedet und im Grunde das Parlament stärkt. Natürlich erlebt eine Regierung das als instabil, da sie sich ja ständig mit anderen einigen muss. Für die Demokratie und Öffentlichkeit ist es aber ein sehr spannender Prozess, der unsere Demokratie im derzeitigen Zustand sehr beleben kann.
3. AD: Es gibt ja auch noch die Möglichkeit einer neuen Großen Koalition. Die SPD ist hier offenbar gespalten. Während die Spitze eine neue GroKo ausschließt, melden sich Stimmen von der Basis und aus den Bundesländern zu Wort, die das für falsch halten. Auch ein Mitgliederentscheid wie 2013 wird diskutiert…
CN: Eine Große Koalition würde ich den Parteien nur empfehlen, wenn die SPD klugerweise mit dem Versprechen reingeht, bundesweite Volksabstimmung und Bürgerbeteiligung zu ermöglichen, damit es die Möglichkeit der Rückkoppelung mit den Bürger/innen gibt.
RUB: Als die SPD ihre Mitglieder 2013 zum Koalitionsvertrag befragt hat, lag die Beteiligung bei knapp 78 Prozent! Das zeigt den Bedarf der Basis, hier mitzureden. Ein Mitgliederentscheid wäre eine angemessene Antwort auf die parteiinternen Spannungen.
4. AD: Beim Thema „bundesweite Volksabstimmung“ standen die Sondierenden ja mit 3:1 schon kurz vor einem Durchbruch: Am letzten Donnerstag (16.11.) gab es einen Moment, wo die Generalsekretär/innen aller vier Jamaika-Parteien die Viertelmillion Unterschriften des Bündnisses „Jetzt ist die Zeit: Volksentscheid. Bundesweit.“ entgegennehmen wollten. Das wäre ein deutliches Signal für die direkte Demokratie auf Bundesebene gewesen. Dann haben sich die politischen Ereignisse überschlagen. Heißt das jetzt, das Thema „Volksabstimmung“ ist erstmal wieder vom Tisch?
CN: Nein, im Gegenteil, dass wir dringend Volksabstimmungen brauchen, ist gerade durch die gescheiterten Verhandlungen deutlich geworden. Alle strittigen Themen hätten die Bürger/innen selbst zur Abstimmung bringen können, durch von unten angeschobene Volksinitiativen. Das hätte die Debatte sehr entspannen können und was am Ende wirklich inhaltlich mehrheitsfähig unter den Menschen ist, hätte sich dann an anderer Stelle gezeigt. Jamaika hätte sich dann auf die wesentlichen Fragen konzentrieren können und eine geschäftsfähige Koalition bilden können, ganz in Ruhe.
RUB: Nach unserer Wahrnehmung waren wir nur einen Hauch davon entfernt, den bundesweiten Volksentscheid in ein Regierungsprogramm zu hieven. Wenn CSU, Grüne und FDP standhaft geblieben wären, wovon wir ausgehen, hätte die CDU Jamaika bestimmt nicht an der direkten Demokratie scheitern lassen. Vielleicht hat ja Angela Merkel auch hier hinzugelernt. Die CSU hat ihre Vorbehalte gegenüber bundesweiten Volksentscheiden vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der direkten Demokratie in Bayern aufgegeben. Das dürfte auch die CDU beeindrucken.
5. AD: „Ohne die Bürger/innen geht es nicht mehr“ – das scheint die Erkenntnis der Stunde zu sein. Es gibt bereits Petitionen für einen „Bürgerpakt“ (siehe hier...) oder einen „Koalitionsvertrag der Bürger“ (siehe hier...). Eine „Koalition mit den Bürgern“ – Wie soll das gehen?
RUB: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Das ist der Bürgerpakt, den uns das Grundgesetz zusagt. Danach müssten die Bürger/innen jederzeit das erste und letzte Wort haben können. Einlösen lässt sich das nur mit der direkten Demokratie, die die repräsentative ergänzt. Selbst wenn die Bürger/innen diese direktdemokratischen Möglichkeiten nicht nutzen, aber die gewählte Vertretung stets damit rechnen muss, sorgt dies perspektivisch für Bürgerkoalitionen: Gesetzgebung wird mit mehr Sorgfalt, mehr Zeit angegangen und deutlicher in die Zivilgesellschaft rückgefragt, ob alles bedacht ist, Positionen nicht einfach übergangen werden. Hier ist die direkte Demokratie der entscheidende Schlüssel.
6. AD: Wie die politische Zukunft Deutschlands aussieht, scheint momentan ziemlich offen. Ist es nicht besorgniserregend, wenn ein Land, das lange Zeit von außen und innen als stabil und zuverlässig wahrgenommen wurde, sich plötzlich in einer wochenlangen Suchbewegung befindet?
RUB: Ganz und gar nicht. Die Große Koalition regiert in aller Ruhe geschäftsführend weiter – keine Skandale, keine Verunsicherungen, alles ruhig. Derweil diskutiert das Land die demokratische Praxis. Wir loten aus, wie das Verhältnis von Regierten und Regierenden gestaltet sein sollte – und landen unweigerlich bei der Notwendigkeit, auch auf Bundesebene die direkte Demokratie einzuführen. Was sollte daran besorgniserregend sein? Endlich erleben wir eine solche Diskussion.