Wie lebt es sich mit einer erstarkenden AfD?

Aus einem persönlichen Blickwinkel – von Ralf-Uwe Beck

Ich bin in der ehemaligen DDR aufgewachsen und bin bis heute hier zu Hause. Im Herbst 1989 hatten wir uns mit der friedlichen Revolution aus diktatorischen Verhältnissen befreit. Das war ein Anfang. Die Freiheit „von etwas“ aber muss münden in die Freiheit „für etwas“. So diskutierten wir, wohin und wie wir dieses Land entwickeln wollten. Es erschien uns wie ein Land mit unbegrenzten Möglichkeiten. Dann fiel die Mauer und die Menschen orientierten sich in Richtung Westen. Der Westen versprach Wohlstand; das übte eine stärkere Anziehungskraft aus, als die Aussicht, einen eigenen und unsicheren Weg zu gehen. Ich wurde also Bürger der Bundesrepublik Deutschland, aber fühlte mich fremd. Bis 2015. Als Angela Merkel sagte „Wir schaffen das“, fühlte ich mich zum ersten Mal zugehörig, als Teil dieses „Wir“.

Dieses „Wir“ einer offenen und demokratischen Gesellschaft wird von der AfD in Frage gestellt. Die Partei wurde gerade im dritten Bundesland vom Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextrem“ eingestuft. Alle drei Bundesländer liegen in Ostdeutschland. 2024 stehen hier nicht nur die Europawahlen, sondern in drei Ländern auch Parlamentswahlen an, in Brandenburg, Sachsen und in Thüringen, wo ich zu Hause bin. Nach Umfragen könnte die AfD bis zu 35 Prozent Zustimmung erfahren. Dann hätte sie in den Parlamenten eine Sperrminorität: Alle Beschlüsse, die mit einer qualifizierten Zwei-Drittel-Mehrheit zu fassen sind, müssten auch mit der AfD ausgehandelt werden. Dies betrifft die Wahl der Verfassungsrichterinnen und -richter, die Ausschüsse, die Staatsanwaltschaften und Gerichte zu besetzen haben, den Landesrechnungshof – und sämtliche Verfassungsreformen. Das Programm der AfD würde zur Verhandlungsmasse werden. Sie würde versuchen, so viel wie irgend möglich von ihrem Personal und ihren Zielen durchzusetzen, auch wenn sie nicht regiert.

Björn Höcke ist Landesvorsitzender der AfD in Thüringen und Vorsitzender seiner Fraktion im Parlament. Ein Gericht hat 2019 entschieden, dass er öffentlich „Faschist“ genannt werden darf. Er gilt als Drahtzieher der AfD in ganz Deutschland. Im Dezember hat er einen Fünf-Punkte-Plan veröffentlicht, den er verwirklichen will, sobald er in Regierungsverantwortung ist. Höcke will gegen Migrantinnen und Migranten vorgehen und massiv Flüchtlinge abschieben. Europa soll zur Festung werden. Die Situation in den Ländern, aus denen Flüchtlinge kommen und in die sie zurückgebracht werden sollen, wird dabei vollständig ausgeblendet. Die Förderung von Programmen zur Stärkung von Demokratie und Zivilgesellschaft sollen zurückgefahren werden. Dies würde genau die Initiativen treffen, die versuchen, in und mit der Bevölkerung Gegengewichte zum Rechtspopulismus zu etablieren. Der Verfassungsschutz soll umgepolt werden und nicht mehr gegen Rechts, sondern nur noch gegen Links vorgehen. Das System des Öffentlich-rechtlichen Rundfunks soll umgekrempelt werden. Und schließlich sollen jegliche Klimaschutzmaßnahmen beendet werden, da die AfD den menschengemachten Klimawandel leugnet. Dies alles würde zur Verhandlungsmasse werden, wenn die AfD eine Sperrminorität hätte. Sie müsste gar nicht mitregieren und würde dennoch ihre Vorhaben scheibchenweise verwirklichen. Mehr noch, wenn sie in Regierungsverantwortung käme. Höckes Autokennzeichen endet auf „MP 2024“. MP steht für Ministerpräsident. Höcke will in die Staatskanzlei einziehen und Regierungschef werden. Nun, das wird mit 35 Prozent kaum möglich sein. Allerdings regiert im Saarland derzeit die SPD allein. Sie war mit 42 Prozent gewählt worden. Möglich ist das, weil dort im Landtag nur noch drei Parteien vertreten sind. Alle anderen sind an der 5-Prozent-Hürde hängengeblieben. Was wenn ähnliche Verhältnisse hier eintreten, die AfD noch zulegt und als stärkste Kraft allein regiert?

Auch wenn die Wahrscheinlichkeit für dieses Worst-Case-Szenario nicht sehr groß ist, verändert sich die Stimmung insgesamt. Es scheint als wären die faschistoiden Geschwüre nur unter der Haut gehalten, aber nicht verschwunden. Jetzt brechen sie auf und drängen an die Oberfläche. Es scheint, als wäre manchen Menschen nichts mehr heilig. Als in einer Thüringer Stadt eine Gruppe behinderter Menschen unterwegs war, wurde sie von einem Mann mit abfälligen Bemerkungen traktiert. Als er zur Rede gestellt wurde, sagte er: „Hoffentlich kommt bald die AfD an die Macht. Dann seid ihr alle weg.“ Hier wird der Euthanasie das Wort geredet, den Verbrechen aus der Nazizeit, von denen wir glaubten, ihre Verurteilung sei Allgemeingut.

„AfD steht gegen alles, für das ich bisher in meinem Leben gekämpft habe: den Ausbau der Bürgerrechte für alle Menschen, eine starke Zivilgesellschaft, Flüchtlingsschutz und eine Bekämpfung von Fluchtursachen, einen wirksamen Natur- und Klimaschutz. “

Ralf-Uwe Beck, Bundesvorstandssprecher

AfD steht gegen alles, für das ich bisher in meinem Leben gekämpft habe: den Ausbau der Bürgerrechte für alle Menschen, eine starke Zivilgesellschaft, Flüchtlingsschutz und eine Bekämpfung von Fluchtursachen, einen wirksamen Natur- und Klimaschutz. Die Umfragewerte machen mir Angst. Die Ahnungslosigkeit und Ignoranz der anderen Parteien auch, die bereits in den Wahlkampfmodus umschalten, anstatt zu retten, was zu retten ist . Es macht sich eine fatalistische Stimmung breit, in der wir zunächst noch ironisch darüber reden, in welches Land wir dann umziehen könnten. Darunter mischen sich erste ernsthafte Überlegungen, beispielsweise besorgter Eltern, die ihre Kinder nicht einem Bildungssystem anvertrauen wollen, das von der AfD dominiert wird. Die Wirtschaftsverbände fürchten um Investitionen, Unternehmen, die auf Zuwanderung angewiesen sind, um die notwendigen Arbeitskräfte.

Dabei müsste das Land nicht einfach an die AfD preisgegeben werden. Wären sich die anderen Parteien einig und würden über ihren parteipolitischen Schatten springen, könnten Verfassungsänderungen noch angegangen und das Wahlrecht reformiert werden. So könnte die Fünf-Prozent-Klausel auf drei Prozent abgesenkt werden. Konstellationen wie die im Saarland könnten so vermieden werden. Denkbar wäre auch die Einführung einer Proteststimme. In Deutschland gibt es bei Wahlen keine Stimmenthaltungen. Wer nichts ankreuzt, macht seine Stimme ungültig. Was aber ist mit denen, die völlig frustriert sind und „die Schnauze von allen Parteien voll haben“? Sie gehen nicht zur Wahl oder sie wählen extrem, machen also dort ihr Kreuz, wo die Empörung bei den anderen Parteien am größten ist: bei der AfD. Analysen der letzten Wahlen zeigen, dass die Hälfte der AfD-Wählerschaft eigentlich Protest wählen wollen. Sie sind mit der Programmatik der AfD noch nicht gänzlich verbunden. Der Anteil lag früher bei 65 Prozent, heute bei 50 Prozent, er sinkt also. Dennoch könnten mit der Möglichkeit, Protest zu wählen, der AfD Stimmen streitig gemacht werden. Es bräuchte auf dem Wahlzettel nur ein gesondertes Kästchen; die Kreuze dort würden gezählt, aber hätten keine Auswirkung auf die Sitzverteilung. Mit ihnen könnte ein Signal an alle Parteien gesendet werden: Bitte kümmert euch!

Vor allem aber wäre denen der Wind aus den Segeln zu nehmen, die in die AfD-Parolen einstimmen und meinen, „die da oben machen sowieso, was sie wollen – und wir können nichts dagegen tun“. Hier ist das Gefälle zwischen Ost- und Westdeutschland besonders groß. Die Demokratie wissen – Ost wie West – mehr als 90 Prozent zu schätzen und wie die Demokratie in den Verfassungen ausformuliert ist, immerhin noch rund 75 Prozent. Aber dass sie funktioniert, dem stimmen im Osten nur gut 40 Prozent zu, im Westen fast 60 Prozent.

Noch gravierender tritt das Misstrauen gegenüber dem demokratischen System bei der Frage zutage, was jede und jeder tun könnte: Mehr als drei Viertel der Ostdeutschen gehen davon aus, dass sie keinerlei Einfluss auf die Regierung haben und zwei Drittel finden es sinnlos, sich politisch zu engagieren. Offenbar sitzen die Enttäuschungen tief. Das verwundert kaum, haben sich doch die Verunsicherungen seit der Wiedervereinigung tief in die ostdeutsche Identität eingebrannt. Für die Ossis hat sich mit dem Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland alles, wirklich alles, geändert, für die Wessis nur die Postleitzahl.

Die Ostdeutschen blieben bei dem Beitritt des Mangel- an das Wohlstandsgebiet auf ihre Verliererrolle fixiert, zumal sie sich nun existentiellen Verunsicherungen ausgesetzt sahen. Vom Westen aus wurde der Osten als Markt entdeckt, die Wirtschaft als veraltet abgewickelt und das Potential oft ignoriert, das ostdeutsche Arbeitskräfte nur zu gern eingebracht hätten. Die Ostdeutschen sahen sich verwiesen an das schambesetzte Arbeitsamt und das angstbesetzte Finanzamt. Der Kontrollverlust gehört seither zur ostdeutschen DNA. Die Transformationsmüdigkeit ist angesichts der Anpassungen, die zu leisten waren, größer als im Westen, Verunsicherungen wirken bedrohlicher.

„Auf diesem Klavier spielt die AfD ihre fatalen Melodien. Umso mehr wäre im Osten darauf zu setzen, Gestaltungsmöglichkeiten und Bürgerrechte auszubauen. “

Ralf-Uwe Beck, Bundesvorstorstandssprecher

Auf diesem Klavier spielt die AfD ihre fatalen Melodien. Umso mehr wäre im Osten darauf zu setzen, Gestaltungsmöglichkeiten und Bürgerrechte auszubauen. Hier gibt es mustergültige Beispiele, die Modell für ganz Deutschland sind. So sind die Hürden für die direkte Demokratie in Kommunen nirgendwo in Deutschland niedriger als hier in Thüringen. Auf der Landesebene aber ist die direkte Demokratie kaum nutzbar. In allen Bundesländern gibt es einen Reformstau in Sachen Demokratie. In den Schubladen liegen ausgearbeitete Konzepte, ja sogar Gesetzentwürfe, die jetzt von der langen Bank geholt und verabschiedet werden müssten. Noch sind ein paar Monate Zeit, Reformen zu beschließen, sodass denen, die mit dem Finger auf „die da oben“ zeigen, geantwortet werden kann: Es liegt auch an dir, wie dieses Land gestaltet wird! Du selbst bist die Rettung, nicht die rechtsextremen Führer, denen Menschenrechte egal sind. Entscheide du mit, in was für einem Land wir leben wollen.

In meiner Straße engagiert sich die Hälfte der Familien in einem kleinen Verein. Wir kümmern uns um einen Bolzplatz für Kinder und Jugendliche, reparieren Tore, rechen das Laub zusammen, räumen auf. Wir pflegen auch einen kleinen Wald, legen Bienenweiden an, treffen uns zu Arbeitseinsätzen. Und danach sitzen wir bei einem Bier um den Grill und reden. Vernünftig. Von denen soll jeder Dritte rechtsextrem wählen? Kaum zu glauben. Dass viele von der real existierenden Politik enttäuscht sind, schon eher. Wir werden dem Thema AfD nicht mehr ausweichen können, nur weil wir fürchten, der nachbarschaftliche Frieden könnte gestört werden. Die AfD konstruiert Not- und Missstände, um sich dann als letzte Rettung zu präsentieren. Sie legt also erst die Lunte und bietet dann an, sie auszutreten. Diese nur konstruierten Missstände von den tatsächlichen Missständen unterscheiden zu lernen, könnte auch helfen, die AfD zu entlarven. Diesen Gesprächen nicht auszuweichen, sondern die Gefahren bewusst anzusprechen und die roten Linien zu benennen – dem werden wir uns stellen müssen. In der Nachbarschaft, den Familien, an der Arbeit – und bei allem politischen Engagement. Es wird ein anstrengendes Jahr 2024.

 

Hinweis: Dieser Text wurde ursprüngllch geschrieben für Zocalo Public Square, USA; dort gekürzt, ins Englische übersetzt und veröffentlicht am 7. Februar 2024.

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