Unterschiedliche Blicke auf die Bundestagswahl

Unsere Vorstandssprecherinnen Claudine Nierth und Marie Jünemann sowie unser Vorstandssprecher Ralf-Uwe Beck haben die Bundestagswahlen genau verfolgt. Alle drei haben ihr Statement abgegeben und die Wahlen von unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet. Ihr Statements Lesen Sie hier.

Impulse für ein neues Regierungssystem

von Claudine Nierth, Bundesvorstandssprecherin von Mehr Demokratie

Selten bin ich so oft vor der Wahl gefragt worden: „Wen soll ich wählen?“. Diese Frage drückt die Unsicherheit vieler Wähler und Wählerinnen im Umgang mit der Bundestagswahl aus. Die Unentschlossenheit drückt sich meines Erachtens auch darin aus, dass es keinen eindeutig starken Gewinner gibt, sondern eher mehrere Parteien, die sich im unteren Mittelfeld tummeln. So richtig glücklich scheint keiner mit dem Wahlergebnis zu sein, weder die Politik noch die Wählerinnen und Wähler. Drückt diese Wahl nur einmal mehr die Unzufriedenheit mit dem politischen System aus und der Druck auf die Erneuerung unserer Demokratie wächst? Einerseits differenziert sich unsere Gesellschaft immer mehr aus, was letztendlich eher dazu führt, dass sich immer mehr Parteien gründen – diesmal versuchten es 54 Parteien zur Wahl – und andererseits versucht jede Partei möglichst alle Themenfelder abzudecken, um die Konkurrenz auszuschalten und alleine in die Regierungsbildung einziehen zu können. Die Frage „Wen soll ich wählen?“ wird aber auch von Menschen gestellt, die zwar sehr politisch sind, sich aber keiner Partei eindeutig zugehörig fühlen, sondern eher einem Parteienbündnis. In fast jeder Partei finden sie sowohl notwendige als auch weniger notwendige Aspekte. Manch einer wünscht sich ein starkes Klimaschutzgesetz, will aber dass in die Gesetzgebung nicht nur die Umweltaspekte der Grünen berücksichtigt werden, sondern auch die sozialen Themen der SPD miteinfließen, die Perspektiven der Digitalisierung der FDP oder die Entwicklung neuer Technologien wie sie die CDU/CSU fordert. Das heißt, manch einem Wähler oder einer Wählerin fällt es zunehmend schwer das Regierungssystem fragmentiert zu betrachten, sie suchen eigentlich umfassendere Lösungen, bei denen alle Perspektiven miteinbezogen werden. Sie wünschen sich eher eine Regierung bei der alle Parteien mit am Tisch sitzen oder ein Parlament, in dem wirklich alle Fraktionen Einfluss nehmen auf die Gesetzgebung und nicht nur die zwei oder maximal drei stärksten Regierungsparteien.

Alles Anlässe, denke ich, um über unser demokratisches System grundsätzlich konstruktiv nachzudenken! Warum am Wahlabend nicht auf einem weiteren Wahlzettel auch unsere Koalitionsempfehlungen angeben? Oder unsere fünf wichtigsten Themen, welche in der nächsten Legislatur auf jeden Fall behandelt werden sollen priorisieren? Warum die Kanzlerkandidatinnen und -kandidaten nicht in einer Mitgliederurabstimmung von allen Parteimitgliedern bestimmen lassen?

Kurzum, um dem Druck auf die Demokratie angemessen begegnen zu können, sollten wir uns ganz grundsätzlich bei Mehr Demokratie fragen, was noch zeitgemäß ist und den gesellschaftlichen Erwartungen entspricht. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat drei bemerkenswerte Gedanken in diesem Jahr geäußert, die alle dazu aufrufen, grundsätzlicher nachzudenken: „Die Demokratie muss beweglich sein, um stabil zu bleiben.“ „Demokratie besitzt die Fähigkeit sich selbst zu reflektieren.“ „Wir müssen uns Gedanken über die Gestaltungskraft des Parlaments machen.“

Für Mehr Demokratie bedeutet das, dass wir jetzt aufgefordert sind grundsätzlicher – und  auch über die direkte Demokratie und Bürgerräte hinaus nachzudenken, um neue Modelle und Empfehlungen für das politische System zu entwickeln.

„Fridays for Hedgefonds?“ – junge Menschen und die FDP

von Marie Jünemann, Bundesvorstandssprecherin von Mehr Demokratie

Tönt es noch am Wahlabend auf Twitter. Denn: Die FDP und die Grünen sind die meist gewählten Parteien bei den Erstwählerinnen und Erstwählern. Wo man Letzteres bei der Fridays for Future Generation erwartet, ist Ersteres ein echter Überraschungssieg. Wie konnten die Liberalen, welche in der Altersgruppe 60plus deutlich hinter SPD und Union liegen, dieses Ergebnis erzielen, frage ich mich.

Es lag an Corona und den damit einhergehenden Einschränkungen sind sich die Jungen Liberalen (JuLis) und auch der Soziologe Klaus Hurrelmann, einer der bekanntesten Jugendforscher Deutschlands, einig. Studien zeigen, dass sich gerade junge Menschen durch die Coronakrise stark beeinträchtigt gefühlt haben. Eine Kampagne, wie die der JuLis unter dem Titel „Zukunft nur mit Freiheit“ hat hier Resonanz gefunden.

Ein anderer Faktor und vielleicht auch ein weitaus entscheidenderer: Die FDP besetzt das Feld Digitalisierung und sie weiß dieses auch gut zu nutzen. Erstwählerinnen und Erstwähler gehörten bei dieser Bundestagswahl zu den Jahrgängen 1999 bis 2003, also zur sogenannten Generation Z. Plattformen wie TikTok, Youtube und Snapchat sind bei dieser Altersgruppe besonders beliebt, sie nutzen im Schnitt häufiger als 10 Mal am Tag diese sozialen Medien1 und damit sogar häufiger als meine Generation Y. Gerade auf TikTok war die FDP weitaus besser aufgestellt als alle anderen im Bundestag vertretenen Parteien.2 Der über 70-jährige FDP-Abgeordnete Thomas Sattelberger war mit mehr als 140.000 Followern zeitweise der prominenteste deutsche Politiker auf TikTok.

Den Erfolg der FDP nur auf TikTok zurückzuführen, ist jedoch stark verkürzt. Fakt ist, die FDP setzt sich auch für ein Wahlrecht ab 16, für eine liberale Drogenpolitik und gegen staatliche Überwachung ein. Das alles sind Themen, mit denen man bei jungen Wählerinnen und Wählern punktet. Das Feld Digitalisierung wurde in den vergangenen Wahlkämpfen, vor allem bei Landtagswahlen immer wieder als Kernkompetenz der Partei betont. Bei aller möglichen Kritik in anderen Bereichen (z.B. Klima, Gerechtigkeit, Steuern) ist das für uns bei Mehr Demokratie für die nächsten Jahre eine Chance: Mit einer FDP in der Regierung könnten wir endlich eine digitale Demokratie und eine Demokratisierung des Digitalen voranbringen. Andere Staaten sind uns hier Lichtjahre voraus (siehe S. 36). Und wenn die Verhandlungen dieses Mal ko-kreativ laufen, wie insbesondere FDP und Grüne betonen, dann könnte sogar ein Dreiklang entstehen, der das Beste aller Parteien zur Geltung bringt.

 

1 Quelle: 2021 Digital Content Next Research: Gen Z Digital Media Attitudes, Values and Behavior 

2 Quelle: netzpolitik.org/2021/bundestagswahl-warum-die-fdp-bei-erstwaehlerinnen-punktete/, letzter Zugriff: 30.09.2021

 

Es klemmt die Tür vom Wahllokal. Mehr Reformöl!

von Ralf-Uwe Beck, Bundesvorstandssprecher von Mehr Demokratie

Deutschland hat gewählt. Schön wär’s. Nicht wählen durften etwa sieben Millionen ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger, die schon länger hier leben, aber eben kein Wahlrecht haben. Ausgeschlossen waren auch – anders als bei Landtagswahlen in vier und bei Kommunalwahlen in elf Bundesländern – rund anderthalb Millionen 16- und 17-Jährige.

Forderung von Mehr Demokratie: Wahlrecht für Ausländer sowie mindestens für 16- und 17-Jährige! Hier geht es um das demokratische Existenzminimum. Deshalb steht das hier ganz vorn.

735 Sitze hat der Bundestag, mehr als je zuvor. Laut Gesetz sollen es 598 sein. Überhangmandate blähen den Bundestag zum größten Parlament der Welt auf.

Forderung von Mehr Demokratie: Mehrmandats-Wahlkreise! Dafür werden die Wahlkreise von 299 auf etwa 70 reduziert und in jedem Wahlkreis zwischen vier und 19 Abgeordnete gewählt. Jede Partei würde mindestens zwei, am besten eine Kandidatin und einen Kandidaten aufstellen. Die Wählerinnen und Wähler sollen drei Stimmen vergeben können, an mehrere Parteien oder auch an eine Partei. So würden 528 Mandate vergeben. Gleichzeitig würden über die Parteilisten 70 Abgeordnete einziehen, entsprechend der Stimmverteilung in den Wahlkreisen. Die Zweitstimme würde entfallen, Überhangmandate wären passé.

8,7 Prozent der abgegebenen Zweitstimmen gingen diesmal an kleine Parteien, die es nicht über die 5-Prozent-Hürde geschafft haben. Die Stimmen von 4.058.883 Wählerinnen und Wählern bleiben also faktisch in der Urne – eine Beerdigung zweiter Klasse für das Stimmrecht.

Forderung von Mehr Demokratie: Ersatzstimme einführen! Jeder kann zusätzlich einer Partei eine Ersatzstimme geben. Wenn er dann eine kleine Partei gewählt hat, die an der Sperrklausel scheitert, kommt seine Ersatzstimme für eine größere Partei zum Tragen – so dass seine Stimme nicht verloren geht und niemand gezwungen wird, taktisch zu wählen. Im Übrigen sollte die Sperrklausel auf 3 Prozent gesenkt werden!

Manche nutzen die Wahl als Chance, den Parteien, der Politik, dem „System“ oder wem auch immer einen Denkzettel zu verpassen und wählen deshalb extrem. Oder sie geben den Stimmzettel leer ab und machen ihre Stimme ungültig. Aber wie viele sind es und wie verzerrt das die Wahlergebnisse? Keine Ahnung.

Forderung von Mehr Demokratie: Proteststimme einführen! Eine Art Enthaltung also, ein gesondertes Kästchen, um Unzufriedenheit mitteilen zu können. Diese Unmutsstimmen werden ausgezählt und bekanntgegeben – so wird daraus ein Signal an die Parteien: Kümmert euch.

In der Corona-Krise wurden bei manchen Kommunalwahlen die Briefwahlunterlagen automatisch allen Wählerinnen und Wählern zugestellt – ohne Antrag. Gesunken ist der Aufwand, gestiegen die Wahlbeteiligung.

Forderung von Mehr Demokratie: Briefwahl für alle – bei weiterhin geöffneten Wahllokalen.

Wahlrecht hin, Wahlrecht her. Selbst wenn wir uns mit unseren Vorschlägen durchsetzen würden, es bleibt bei unserer Forderung nach einer vollständigen Demokratie. Dazu gehört, auch zwischen den Wahlen Sachthemen besetzen und verlangen zu können, darüber abzustimmen. Jetzt bleibt uns nur, vier Jahre zu warten, bis wir wieder Einfluss nehmen können auf die Bundespolitik. Die Demokratie ist aber kein Warteraum, sondern eher ein Marktplatz, auf dem wir uns zusammensetzen, um uns auseinanderzusetzen. Wir verlangen den bundesweiten Volksentscheid!

Teilen:
nach oben