Von unten erkämpft, gern genutzt

Vor 30 Jahren fand der Volksentscheid zum kommunalen Bürgerentscheid in Bayern statt. Ein wichtiger Schub für die politische Kultur in Bayern – und die Geschichte von Mehr Demokratie e.V.

Die Bürgerinnen und Bürger in Bayern haben die direkte Demokratie in ihren Kommunen selbst erkämpft – mittels der direkten Demokratie auf Landesebene. Am 1. Oktober 1995 fand der Volksentscheid zum kommunalen Bürgerentscheid in Bayern statt. Sollten die Menschen auch in ihren Kommunen per Bürgerbegehren einen Bürgerentscheid erzwingen und damit über ein kommunalpolitisch relevantes Thema abstimmen können? 57,8 Prozent stimmten mit Ja. Natürlich wollten sie vor Ort mitreden dürfen!

Federführend beim Volksbegehren „Mehr Demokratie in Bayern: Bürgerentscheide in Gemeinden und Kreisen“ war Mehr Demokratie e.V., das Bündnis allerdings sehr breit. Kein Wunder, denn die Herausforderungen waren immens: Rund eine Million Unterschriften mussten zusammenkommen – und das innerhalb von zwei Wochen. Die Menschen konnten ihre Unterschrift damals nur in Amtsstuben abgeben. Am Infostand in der Fußgängerzone oder beim Bäcker zu unterschreiben, war nicht vorgesehen. Und doch gelang es: 120.000 Menschen pro Werktag und insgesamt 1,2 Millionen Menschen unterstützten das Volksbegehren.

„Die Stimmung war elektrisierend: Wir klebten Plakate, sammelten Spenden und veranstalteten Kunstaktionen“, erinnert sich Roman Huber, damals Teil des Kampagnen-Teams, heute geschäftsführender Bundesvorstand von Mehr Demokratie. Die technische Ausstattung war bescheiden, Social Media und E-Mails gab es nicht. Nur manche im Team hatten einen Computer, dennoch kamen sie mit den Menschen ins Gespräch. „Die Kommunikation lief über Fax-Verteiler. Der doppelstöckige OMNIBUS für direkte Demokratie tourte durch die Landkreise. Sobald die Leute verstanden, worum es uns ging, stießen wir auf große Zustimmung“, so Huber.

Im Rahmen einer Kunstaktion konnten Privatpersonen auf einem Thron Platz nehmen. Die Botschaft: Mit dem kommunalen Bürgerentscheid würde der Bürger König, die Bürgerin Königin. Oder jemand stand in einem improvisierten Käfig, an dem ein Plakat hing: „Befreit den mündigen Bürger“. So etwas hatten Bayerns Fußgängerzonen bis dahin nicht gesehen.

Bestehende Elemente kommunaler Direkt-Demokratie hatten die Nazis in den 1930er-Jahren abgeschafft. SPD und Bayernpartei wollten sie nach dem Krieg wieder etablieren. Es scheiterte jedoch am Widerstand der scheinbar übermächtigen CSU. Auch 1995 stellte sie sich quer. Die Webseite csu-geschichte.de fasst es wie folgt zusammen: „Die CSU beharrte weiterhin auf ihrer Ablehnung, musste aber im Hinblick auf die wachsende Zustimmung in der Bevölkerung und auch in den eigenen Reihen ihren Kurs korrigieren. Die Ablehnung resultierte aus der Befürchtung, kleine Interessengruppen oder Gemeinden könnten Großprojekte lahmlegen, somit Arbeitsplätze gefährden und den Wirtschaftsstandort Bayern für Investoren unattraktiv machen.“

Ignorieren ging nicht, also unterbreitete der CSU-dominierte Landtag einen Gegenvorschlag. „Damit nicht wenige alles blockieren“, war auf ihren Plakaten zu lesen. Die Menschen sollten für den Gegenvorschlag stimmen, „damit die Arbeitsplätze sicher bleiben“ und „damit Bayern vorn bleibt“. Die Konservativen appellierten also an diffuse Urängste – und scheiterten damit. Der angedrohte Niedergang blieb aus: Heute rühmen CSU-Persönlichkeiten Bayerns wirtschaftliche Potenz. Die Arbeitslosenquote liegt unter dem Bundesdurchschnitt. Und das, obwohl Bayern seit Langem Deutscher Meister der direkten Demokratie ist: 40 Prozent aller direktdemokratischen Verfahren in deutschen Kommunen finden irgendwo zwischen Altötting und Zwiesel statt. Darauf können die Menschen in Bayern stolz sein.

Die damalige Kampagne gab der Gründung von Mehr Demokratie einen mächtigen Schub. Damals hofften viele, der Weg zum bundesweiten Volksentscheid sei nun nicht mehr weit. Es sollte anders kommen. Zwar sind kommunale Bürgerentscheide und landesweite Volksentscheide längst in allen Bundesländern möglich, bei unterschiedlichen Regeln und unterschiedlicher Praxis. Auf Bundesebene dürfen wir aber immer noch nicht über Sachfragen abstimmen. Daran arbeiten wir.

Links:


Eine kleine Bildergalerie zur Kampagne:
https://www.flickr.com/photos/mehr-demokratie/albums/72177720329343915/

30 Jahre Bürgerbegehren in Bayern: Vom erfolgreichen Volksentscheid zu gelebter Mitbestimmung. Pressemitteilung unseres bayerischen Landesverbandes
https://bayern.mehr-demokratie.de/einzelansicht-der-nachricht/30-jahre-buergerbegehren-in-bayern-vom-erfolgreichen-volksentscheid-zu-gelebter-mitbestimmung-1

Wikipedia-Artikel „Volksentscheid zum kommunalen Bürgerentscheid in Bayern“
https://de.wikipedia.org/wiki/Volksentscheid_zum_kommunalen_Bürgerentscheid_in_Bayern

Artikel „Volksentscheid 1995 - Kommunaler Bürgerentscheid“ auf csu-geschichte.de
https://www.csu-geschichte.de/partei/detail/volksentscheid-1995-kommunaler-buergerentscheid

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