
Eurovision mal anders: Was der ESC mit Demokratie zu tun hat
Der Eurovision Song Contest (ESC) ist diese Woche in aller Munde – Grund genug für Mehr Demokratie, sich aus (demokratie-)politischer Sicht mit diesem Wettbewerb auseinanderzusetzen. Denn auch wenn der ESC fröhlich-unpolitisch sein will und in diesem Jahr alle Sängerinnen und Sänger sogar einen entsprechenden Verhaltenskodex unterschreiben mussten, ist der Song Contest keine unpolitische Veranstaltung. Und: Die Abstimmung über den Siegertitel ist eine der größten, vielleicht sogar die größte Abstimmung weltweit.
Mit eigenen Beiträgen teilnehmen dürfen alle Staaten, die der Europäischen Rundfunkunion angehören. Diese umfasst rund 115 Mitgliedsorganisationen aus 56 Ländern und somit rund 900 Millionen Menschen. Zum Vergleich: In Indien leben rund 900 Millionen Wahlberechtigte.
Ein bisschen Frieden: War der ESC jemals unpolitisch?
Der ESC will unpolitisch sein, so steht es sogar in den Regeln. Er war es aber nie. Als Fest gelebter Vielfalt, für Völkerverständigung und die Toleranz unterschiedlicher Lebensanschauungen kann er das auch gar nicht sein. Millionen Menschen aus verschiedenen Ländern feiern gemeinsam ein fröhliches Fest – damit hatte der ESC immer auch eine politische Kraft!
Immer wieder gab es aber auch Beiträge mit aktuellen politischen Bezügen. So erinnerte die ukrainische Band Jamala 2016 mit ihrem Song „1944“ an die Vertreibung der Krimtataren – zwei Jahre, nachdem Russland die Krim völkerrechtswidrig annektiert hatte. Und auch aus Deutschland kamen politische Beiträge, die den Wettbewerb sogar gewonnen haben. Damit ist nicht Lenas „Satellite“ gemeint, sondern Nicoles „Ein bisschen Frieden“ von 1982, mit dem sie im mehrsprachigen Refrain ein klares politisches Zeichen setzte – mutig in Zeiten der Debatte um den NATO-Doppelbeschluss, die Stationierung von Mittelstreckenraketen und dem aufziehenden Falkland-Konflikt. Politischer geht es kaum!
Mittlerweile ist der ESC eine große Feier für die Akzeptanz und Sichtbarkeit der LGBTIQ+-Community. Das war bereits 1961 der Fall, nur fünf Jahre nach der Gründung des Wettbewerbs. Damals sang der Franzose Jean-Claude Pascal über eine Beziehung, die von der Öffentlichkeit abgelehnt wurde. „Sie wollen uns trennen, sie wollen uns davon abhalten, glücklich zu sein […]. Aber die Zeit wird kommen, und ich werde dich lieben können, ohne dass alle in der Stadt über uns reden werden.“ Pascal outete sich später als homosexuell. Es dauerte allerdings noch bis ins Jahr 1997, bis mit Dana International eine transgeschlechtliche Frau in glitzernder Robe ein unübersehbares Statement für die LGBTIQ+-Community, für Toleranz und Gleichbehandlung setzte und zur Siegerin des ESC gewählt wurde.
Apropos Wahlen: Wer gewinnt den ESC?
Auch die Abstimmung ist ein politisches Statement für demokratische Werte. Gewonnen hat den ESC, wer die meisten Punkte bekommt. Menschen aller Länder dürfen abstimmen. Das Wahlrechtsprinzip „One man, one vote“ gilt beim ESC allerdings nicht. Jeder Staat hat die gleiche Anzahl an Punkten zu vergeben, ganz gleich, wie viele Menschen an der Abstimmung teilnehmen. Somit hat Deutschland das gleiche Stimmgewicht wie das kleinere Österreich. Um diese Ungleichbehandlung zu lösen, müsste man beim ESC wohl transnationale Wahlkreise einführen. Doch was selbst bei Europawahlen nicht ernsthaft zur Debatte steht, ist für den ESC wohl niemals realistisch.
Weil sich westeuropäische Staaten durch die Punktevergabe der osteuropäischen Staaten benachteiligt fühlten, wurde im Jahr 2009 die Punktevergabe durch nationale Jurys wieder eingeführt. Diese entscheiden nun zu fünfzig Prozent über die Punktevergabe der teilnehmenden Staaten. Maßgeblich für diese Entscheidung waren sicherlich auch die sinkenden Quoten in den westeuropäischen Staaten, die als größte Finanziers maßgeblichen Einfluss auf die Wettbewerbsregularien haben.
Aber mal ernsthaft: Ist das wirklich wichtig?
Der Eurovision Song Contest ist Unterhaltung, Show und vor allem auch Kommerz. Er ist nicht das wichtigste Ereignis der Welt, vermutlich noch nicht mal das wichtigste Ereignis des kommenden Samstags.
Aber: Als eine der größten Abstimmungen der Welt ist er immer auch ein demokratisches Erlebnis. Das sollten wir nicht unterschätzen. Beim ESC darf jeder und jede für jemanden abstimmen, der oder die einer politischen oder ethnischen Minderheit angehört, homo- oder transsexuell ist oder für etwas singt, das im eigenen Land verboten ist.
In Zeiten, in denen Autokraten demokratische Werte wie Wahl- und Meinungsfreiheit einschränken und Minderheiten zunehmend bedrohen, wird das immer wichtiger. Dass ausgerechnet westliche Demokratien vor einigen Jahren Jurys eingeführt haben – gewissermaßen also wieder auf das vordemokratische Instrument eines „Rats der Weisen“ zurückgegriffen haben –, mit dem Vorwand, die geschmackliche Hoheit zurückzuerlangen, ist in dieser Hinsicht wirklich schädlich.
Wie viel man von gelebter Demokratie hält, spiegelt sich eben nicht nur in ordnungsgemäßen parlamentarischen Wahlen wider. Die Organisatorinnen und Organisatoren des Wettbewerbs täten gut daran, in diesen Zeiten ein Zeichen für demokratische Werte zu setzen und den Abstimmungsmodus zu demokratisieren.
12 Euro für die Demokratie spenden
Wir setzen uns dafür ein, dass Demokratie nicht nur einmal im Jahr auf der ESC-Bühne glänzt, sondern täglich gelebt wird – in Deutschland, in Europa und überall dort, wo Menschen sich einmischen wollen. Demokratie braucht nicht nur Applaus, sie braucht unser aller Engagement.