Vertrauen stärken – Demokratie erneuern

Unsere Vorschläge für die kommende Wahlperiode

Vertrauen ist die unverzichtbare Grundlage für eine funktionierende Demokratie. Wer den Institutionen und der Politik misstraut, wird ihre Entscheidungen nur schwer als legitim anerkennen. Das Gleiche gilt für die Politik: Misstraut sie den Bürgerinnen und Bürgern, wird sie sich abschotten, was wiederum zu mehr Misstrauen in der Bevölkerung führt – eine Abwärtsspirale. Dieser entkommen wir nur, wenn die Demokratie vorwärts verteidigt wird, indem sich Politik gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern öffnet, ihnen Vertrauen entgegenbringt, sie zwischen den Wahlen ernsthaft an Entscheidungen beteiligt.

Erste Schritte für ein Demokratie-Update wurden in den vergangenen Jahren unternommen: Mit der Erprobung losbasierter Bürgerräte wurde demokratisches Neuland betreten, mit der Weiterentwicklung des Lobbyregisters für mehr Transparenz bei der Interessenvertretung gesorgt. Das Wahlalter für die Europawahlen wurde auf 16 Jahre abgesenkt. Aufgrund der vorgezogenen Bundestagwahl blieben einzelne Vorhaben auf der Strecke: Weder konnte der Referentenentwurf zum Bundestransparenzgesetz, noch die Stärkung des Petitionsverfahrens zum Abschluss gebracht werden. Geplant war, die Geschäftsordnung des Bundestages dahingehend zu ändern, dass öffentliche Petitionen mit mindestens 100.000 Unterschriften im Plenum beraten werden können. Beide Vorhaben sollten in der nächsten Wahlperiode wieder aufgegriffen werden. Abzuwarten bleibt, wie sich das neue Bundestagswahlrecht auswirkt. Zwar wird der Bundestag seine Regelgröße zukünftig nicht mehr überschreiten, jedoch muss der Bundestag nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes das Wahlrecht in der kommenden Wahlperiode erneut anpassen.

Demokratie als Lebensform

Wie schon Theodor Heuss beschrieb, ist die Demokratie, nicht nur eine Staats- und Regierungsform, sondern muss auch als Lebensform „konstituiert” sein. Demokratische Werte, demokratische Kultur und demokratisches Bewusstsein sind essentielle Stützpfeiler jeder Demokratie. Zunehmendes Misstrauen in den Staat, seine Institutionen und die Demokratie selbst, Gewalt gegen Politikerinnen und Politiker, sowie bösartige und affektive Polarisierung bedrohen unsere Demokratie nachhaltig. Deswegen müssen Wege und Methoden erprobt, umgesetzt und evaluiert werden, um diese Phänomene besser zu verstehen, zu mildern und abzubauen. Gleichzeitig wird immer wichtiger, Demokratie und demokratische Kultur als Lebensform zu erfahren und auszubilden. Wer demokratische Werte erlebt, und ein Gefühl für sie entwickelt hat, wird sie eher schützen und verteidigen. Gute Erfahrungen gibt es bereits mit Methoden aus der Dialogarbeit, Konflikttransformation, Prozessbegleitung. Deswegen sollte untersucht werden, wie diese Formate skaliert werden können. Ziel ist die Verbesserung der Gesprächs- und Debattenkultur, um wieder kompromissbereiter und politisch handlungsfähiger zu werden.

Dieser Weg muss in der kommenden Wahlperiode fortgesetzt werden. Wir schlagen folgende Demokratiereformen vor:

  • Wahlrecht

    Mit dem reformierten Bundeswahlgesetz wird der Bundestag zukünftig die Regelgröße von 630 Mandaten einhalten, was im Grundsatz zu begrüßen ist. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 6.8.2024 allerdings bemängelt, dass durch die Streichung der Grundmandatsklausel die 5%-Hürde zu einer überharten Hürde wird und dem Gesetzgeber aufgegeben, hier Abhilfe zu schaffen. Anstelle der Grundmandatsklausel halten wir die Absenkung der Sperrklausel auf 3% für zielführender. Zusätzlich sollten Wählerinnen und Wähler mittels einer Ersatzstimme eine Alternative zu ihrer Zweitstimme ankreuzen können, die dann zum Tragen kommt, wenn die eigentlich gewählte Partei an der Sperrklausel scheitert. Außerdem sollten Wählerinnen und Wähler, die mit dem gesamten Angebot unzufrieden sind, mit einer Proteststimme ihren Unmut zum Ausdruck bringen können, ohne eine extreme Partei wählen zu müssen. Darüber hinaus sollten die Wahlberechtigten mehr Einfluss auf die personelle Zusammensetzung des Bundestags bekommen, indem sie wie bei vielen Kommunalwahlen mit mehreren Stimmen Einfluss auf die Listenreihenfolge nehmen können. Um die Wahlbeteiligung zu steigern, sollte der Bund vorangehen und Briefwahlunterlagen allen Wahlberechtigten automatisch zukommen lassen.

  • Direkte Demokratie

    Wir bekennen uns zur parlamentarischen Demokratie. Sie lebt von der aktiven Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger und sollte um direktdemokratische Elemente ergänzt werden. Die direkte Demokratie sollte bürgerfreundlich ausgestaltet sein, damit es zu einer lebendigen Praxis kommen kann. Einige Bundesländer machen vor, wie es gehen kann. Dort sorgt die direkte Demokratie für tragfähige Kompromisse.

    Die Bürgerinnen und Bürger sollten Gesetze per Volksinitiative und Volksbegehren einbringen und im Volksentscheid darüber abstimmen können. Per fakultativem Referendum sollten sie auch über vom Bundestag beschlossene Gesetze mitentscheiden können. Wie in einigen europäischen Ländern bereits der Fall, sollten sie bei Grundgesetzänderungen mit einem obligatorischen Referendum das letzte Wort haben, insbesondere bei nicht zu revidierenden Weichenstellungen und bei europäischen Fragen von besonderer Tragweite. Der Wesenskern der Verfassung, der Grundrechte und der föderalen Ordnung müssen davon ausgenommen sein.

    Erste Schritte zum Aufbau der direkten Demokratie auf Bundesebene könnten die Aufnahme des fakultativen Referendums und der Volksinitiative ins Grundgesetz sein. Mit dem fakultativen Referendum ließe sich Vertrauen in die Politik zurückholen. Mit der Volksinitiative könnten die Bürgerinnen und Bürger – ähnlich der Europäischen Bürgerinitiative – selbst Gesetzentwürfe und andere Beschlussvorlagen auf die Tagesordnung des Deutschen Bundestags setzen.

  • Losbasierte Beteiligung

    Mit losbasierten Bürgerräten bekommt die Politik zu einer konkreten Fragestellung eine direkte Rückmeldung aus der Mitte der Gesellschaft – jenseits von Meinungsumfragen und Lobbyismus. Bürgerräte sind kein Selbstzweck, sie sollten vor allem bei strittigen, klar eingegrenzten Themen von hohem Interesse eingesetzt werden.

    Aufgrund des Losverfahrens fließen vielfältige Meinungen und Perspektiven in den Dialog ein. So werden auch Menschen beteiligt, die sich ansonsten nicht lautstark einbringen. Kompromisslinien und mehrheitsfähige Vorschläge werden sichtbar. Ein Bürgerrat erarbeitet ein Bürgergutachten mit konkreten Handlungsempfehlungen. Diese fließen in die parlamentarischen Beratungen ein. Die Entscheidungen verbleiben bei den gewählten Institutionen.

    Nach der Erprobung des Formats ist der nächste Schritt, Bürgerräte zu verstetigen. Grundlagen des Losverfahrens sowie erprobte Standards, die Rechte der Opposition und der Umgang mit den Empfehlungen könnten in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages oder in einem Beteiligungsgesetz verankert werden. Mindestens sollten Bürgerräte aber als öffentliche Aufgabe im Sinne des §34 des Bundesmeldegesetzes definiert werden, damit die Losauswahl über die Melderegister der Kommunen abgesichert ist.

    Wird die direkte Demokratie auf Bundesebene eingeführt, könnten losbasierte Bürgerräte und Volksentscheide kombiniert werden. Durch vorherige Beratungen gewinnen Volksentscheide an Zustimmungsfähigkeit und Qualität. Vereinfachung und Polarisierung wird entgegengewirkt. Bürgerräte könnten durch Volksabstimmungen an Wirkungsmacht gewinnen. Frustration und Bedeutungsverlust wird verhindert.

  • Demokratieausschuss im Bundestag

    Strategische Demokratiepolitik hat im Bundestag keinen klar zugewiesenen Platz. Wahlrechtsfragen werden im Innenausschuss, Bürgerräte im Ältestenrat, Transparenzfragen und digitale Beteiligung im Digitalausschuss verhandelt etc. Damit eine demokratiepolitische Gesamtstrategie in Zeiten sinkenden Vertrauens verfolgt werden kann, ist es sinnvoll, die einzelnen demokratiepolitischen Aspekte gebündelt an einem zentralen Ort zu beraten. Der Unterausschuss für Bürgerschaftliches Engagement sollte aufgewertet und zu einem ständigen Ausschuss für Demokratie und bürgerschaftliches Engagement werden. Die Leistungsfähigkeit unserer Demokratie im Systemwettbewerb und der Transformationsdruck sollte im Gesamten analysiert, diskutiert und weiterentwickelt werden. Auch die über 600.000 Vereine, knapp 30 Millionen bürgerschaftlich engagierten Menschen, 60 Millionen Wahlberechtigten und 80 Millionen in Deutschland lebenden Menschen verdienen, dass die Institutionen, Verfahren und rechtlichen, personellen und finanziellen Bedingungen einer lebendigen und vielfältigen Demokratie in einem Hauptausschuss gebündelt behandelt werden. Dem gegenüber sollten sinnvollerweise im Bundeskanzleramt oder an anderer geeigneter Stelle in der Exekutive entsprechende Strukturen geschaffen werden.

  • Transparenz

    Transparenz erleichtert Korruptionsbekämpfung und Kontrolle. Einige Bundesländer, vor allem Hamburg, haben damit gute Erfahrungen gemacht. Evaluationen zeigen: Transparenz stärkt das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in Politik und Verwaltung. Kern eines Transparenzgesetzes ist ein Transparenzportal, auf dem Behörden Informationen von hohem öffentlichen Interesse von sich aus veröffentlichen müssen. Transparenz ist auch ein wirksames Mittel gegen Desinformation, fördert die Meinungsbildung und stärkt damit die politische Teilhabe. Zudem würden die Verwaltungen selbst von einem Transparenzgesetz profitieren. Nur wer von einem Vorgang weiß, kann sich aktiv in politische Prozesse einbringen. Ein Transparenzportal erleichtert den Informationsfluss zwischen Behörden. Effizienz und Wirksamkeit von Behörden werden gesteigert, Bürokratie wird abgebaut.

  • Reform der Gesetzgebung

    80% aller Gesetze werden in den Ministerien vorbereitet. Die komplexen und ressortübergreifenden Herausforderungen unserer Zeit erfordern eine Modernisierung der Gesetzgebung. So sollte bei größeren Gesetzesvorhaben in einem vorgeschalteten Strategieprozess das verfügbare theoretische und praktische Wissen, unabhängig von Parteipositionen, einfließen können. Bei jedem Vorhaben sollten die beabsichtigten Ziele inklusive messbarer Kriterien der Zielerreichung beschrieben und einer regelmäßigen Evaluation unterzogen werden. Eckpunkte eines Vorhabens könnten auch vorab im Bundestag beraten werden.

    Unbeabsichtigte Folgen eines Gesetzes sind unvermeidbar. Deswegen sollte regelmäßig evaluiert werden, ob mit dem Gesetz erreicht wurde, was angestrebt war. Eine Möglichkeit, den erneuten Blick auf die Situation zu erzwingen, ist die „Sunset Legislation“. Normen sind nur befristet gültig.

    Anders als im parlamentarischen Verfahren finden die Beratungen in den Ministerien weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, obwohl hier bereits weitreichende Festlegungen erfolgen, die im parlamentarischen Prozess nur selten wieder aufgeschnürt werden. Bürgerinnen und Bürger, nicht-organisierte Betroffene und Verbände sollten in einem transparenten Verfahren Gesetzesvorhaben kommentieren und inhaltlich mit entwickeln können (siehe dazu Ausführungen zur digitalen Demokratie). Alle diskutierten Alternativen zum Gesetzesvorschlag, auch die verworfenen, sollten im Gesetzentwurf in der Begründung aufgeführt werden. Auf dieser Basis kann ein qualifizierter Dialog im Bundestag und in der Öffentlichkeit stattfinden.

  • Digitale Demokratie

    Wirtschaft, Zivilgesellschaft sowie Bürgerinnen und Bürger sollten aktiv in die Gesetzgebung eingebunden werden, indem die E-Gesetzgebungsplattform, die sich zurzeit in der Umsetzung befindet und deren verwaltungsinterne Nutzung ab 2026 geplant ist, auch der Öffentlichkeit für eine aktive Beteiligung zur Verfügung steht. Referentenentwürfe wie auch Gesetzentwürfe aus dem Bundestag könnten auf einem Online-Portal zur Diskussion gestellt werden. Für die Kommentierung sollte ausreichend (mindestens vier Wochen) Zeit gegeben werden. Zumindest sollte aber in einem ersten Schritt der jeweilige Stand sowie das Verfahren vom Referentenentwurf bis zur Verkündung von Regelungsvorhaben transparent gemacht werden, inklusive externer Stellungnahmen. Digitale Instrumente ermöglichen eine größere Reichweite, um die sogenannten »stillen Gruppen« stärker einzubeziehen. Eine direkte Verknüpfung mit dem Lobbyregister bietet sich an, um Insellösungen zu vermeiden.

    Zudem sollte die digitale Souveränität der Gesellschaft eine zentrale Maxime der Digitalpolitik sein. Dies umfasst die Förderung und Finanzierung von Open-Source-Projekten, um eine unabhängige, transparente und sichere digitale Infrastruktur zu gewährleisten. Die konsequente Umsetzung europäischer Richtlinien wie der Digital Services Act (DSA), der Digital Markets Act (DMA) und der AI-Act sind dabei essenziell. Diese Maßnahmen stärken nicht nur die Autonomie der Nutzerinnen und Nutzer, sondern schützen die Demokratie, indem sie Desinformation, Micro-Targeting und die Verwendung von KI stärker kontrollieren sowie die Macht der Big-Tech einschränken.

  • Demokratisches Europa

    Auf europäischer Ebene ist das demokratische System komplexer als auf Bundesebene und die kulturelle Vielfalt deutlich größer. Da sich in der EU zunehmend mehr Macht fernab der Wahrnehmung vieler konzentriert, ist es besonders wichtig, dass auch hier Bürgerrechte und Bürgerbeteiligung ausgebaut werden. Um strukturelle Veränderungen wie die Etablierung eines permanenten Bürgerrates und beispielsweise die Verknüpfung einer stärkeren Europäischen Bürgerinitiative mit Bürgerräten sinnvoll zu verankern, braucht es einen erneuten Verfassungskonvent. Der Konvent selbst sollte unter breiter Beteiligung der Zivilgesellschaft stattfinden. Thematisch müssen dort auch ganz grundsätzliche Fragen wie die Zusammenarbeit und Zusammensetzung der europäischen Institutionen (Parlament, Rat, Kommission) und die Prozesse der Entscheidungsfindung überdacht werden. Angesichts ihrer angedachten Erweiterung (Ukraine und weitere Staaten) muss die EU sicherstellen, dass sie handlungsfähig sowie demokratisch kontrollier- und gestaltbar bleibt.

  • Demokratie-Sicherung

    Notwendig sind in der kommenden Legislaturperiode Überlegungen und sich anschließende Maßnahmen, um die Demokratie und ihre Institutionen zu schützen. Dabei verdienen das Bundesverfassungsgericht, der Öffentlich-Rechtliche Rundfunk, der Verfassungsschutz, die Bundestagsverwaltung u. a. besondere Aufmerksamkeit.
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